Der Tastsinn ist auch in einer visuell dominierten Welt der wichtigste Sinn des Menschen. So lautet eine Kernaussage des Verkaufstrainers, Autors und Haptik-Experten Karl Werner Schmitz. Wir sprachen mit ihm unter anderem über sein Interesse an haptischen Dingen und die Unterschiede zwischen haptischem und digitalem Marketing.
Büroblog Schweiz: Hr. Schmitz, Sie sind ein grosser Verfechter von greifbaren Dingen und haptischen (Verkaufs-)Erlebnissen. Woher kommt Ihr starkes Interesse für den Tastsinn?
Karl Werner Schmitz: Mir ist 1985 das Buch „Denken, Lernen, Vergessen“ von Professor Frederic Vester in die Hände gefallen. Er sprach darin vom haptischen Lernen, das hat mich hat stark berührt. Dann habe ich 1986 in Köln das Glück gehabt, die Ausstellung „Tastfeld“ von Hugo Kükelhaus zu erleben. Auch dies war für mich ein unvergessliches Erlebnis, was mich von der Macht der Haptik überzeugt hat. So kam ich auf die Idee des Haptischen Verkaufens und verfolgte den Gedanken, die unsichtbare Ware Versicherungsschutz für den Kunden in einem Modell begreifbar zu machen.
Warum sind haptische Elemente in Verkauf und Marketing so wichtig?
Der Grund dafür ist sehr einfach. Der Tastsinn ist der einzige Sinn, auf den der Mensch nicht komplett verzichten kann. Menschen können blind und taub werden oder sein, sie können den Geruchs- und/oder den Geschmackssinn komplett verlieren, aber niemals den Tastsinn. Ohne Tastsinn sind wir tot. Der Tastsinn ist der einzige Sinn, der für uns überlebenswichtig ist. Der Tastsinn ist ein Ganzkörpersinn, der uns unbewusst am meisten beeinflusst. Somit ist er natürlich auch entscheidend bei Verkauf und Marketing.
In der digitalen Welt geht die haptische Erfahrung leider zunehmend verloren. Was halten Sie von digitalem Marketing?
Es ist ein Irrtum zu denken, dass in der digitalen Welt kein Tastsinn gebraucht oder benutzt wird. Ich benenne drei Hauptbereiche im Tastsinn: Berühren, Begreifen und Bewegen. Ein grosser Bereich des Tastsinns ist der sogenannte Gestaltungsdrang. Der Mensch muss den Eindruck haben, Macht zu haben, also etwas machen zu können, etwas bewegen zu können. Wenn wir den Eindruck haben, nichts mehr bewirken zu können, für nichts mehr nützlich zu sein, verlieren wir unseren Lebenswillen. In der digitalen Welt haben wir zwar nur körperlichen Kontakt mit der Maus, mit der Tastatur oder dem Touchscreen, aber wir erleben permanent Aktion und Reaktion, also Wirkung. Somit ist es auch in der digitalen Welt für uns interessant, nach Informationen zu suchen oder Produkte online zu kaufen, weil wir etwas damit bewirken und uns dadurch lebendig fühlen.
Gibt es Marketing-Strategien, bei denen Sie digitale Mittel haptischen vorziehen würden?
Das ist eine kniffelige Frage. Es kommt drauf an. Ich sehe mich als Haptiker, und trotzdem nutze ich natürlich die digitale Welt. Ich habe seit 2001 eine Internetseite, ich mache seit 2003 E-Mail-Marketing, um damit schnell, einfach und kostengünstig mehr Menschen zu erreichen. Seit Ende der 80er-Jahre reden wir von einer Informationsflut. Diese hat sich in den letzten 30 Jahren verhundertfacht, in den letzten zehn Jahren noch einmal verhundertfacht und seit Corona mindestens noch einmal verdoppelt. Die digitale Überflutung nimmt absolut unerträgliche Ausmasse an. Genau deswegen ist die Erinnerung an klassisches Marketing, wie zum Beispiel eine Postkarte oder ein Brief, beides handgeschrieben, vielleicht auf dem ein oder anderen Weg wieder besser und rentabler als digitales Marketing. Die Response-Quote von Print-Marketing, wenn es denn gut ist, ist oft wesentlich rentabler, als die Investitionen in digitales Marketing. Aber nur die wenigsten können es sich heutzutage leisten, in der digitalen Welt nicht vorhanden zu sein. Auf einem Bein steht sich halt schlecht.
Sie haben die „Haptische Verkaufshilfe“ patentieren lassen. Was verbirgt sich dahinter?
Ich habe von 1975 bis 1992 aktiv in Köln Versicherungen verkauft. Die Menschen wollten immer gern ihr Auto, ihr Haus und ihren Hausrat versichern, aber es war gar nicht so einfach, auch gute Kunden davon zu überzeugen, wie wichtig die persönliche Vorsorge ist. Dazu zählen die Altersvorsorge, der Schutz bei Berufsunfähigkeit, bei Unfall und bei Krankheit. In der Summe der Einkommensschutz. Der natürliche Reflex eines jeden Kunden ist, spontan zu denken: „Mir passiert schon nichts.“ Und genau da setzte mein kleines haptisches Modell an. Es symbolisierte, dass, wenn die Arbeitskraft wegfällt, der Mensch umfällt. Aber er kann sich dagegen auf drei Ebenen versichern. Da ich mit diesem Modell persönlich sehr grosse Erfolge erzielt habe, sprach sich das unter Kollegen herum und alle wollten auch so ein Modell haben. Genau zu dieser Zeit liess sich ein Industrie-Designer von mir mit dem Modell beraten. Er war begeistert und kannte auch den Weg zum Patentanwalt. Er designte den haptischen Menschen und wir meldeten nach einem Test, der sehr erfolgreich verlief, diese erste Haptische Verkaufshilfe zum Patent an. Die Erfolge in der Branche waren so gross, dass es heute zum Marketing-Mix gehört, haptische Verkaufshilfen oder haptische Werbemittel, die den Sinn oder die Aussage des Produktes oder der Marke ideal verkörpern, mit einzusetzen.
Der PBS-Bereich lebt von der Haptik, etwa bei Grusskarten, Papier und Schreibgeräten. Wie kann deren Bedeutung erhalten und vielleicht sogar wieder gesteigert werden?
Den Trumpf, den man hat, muss man ins Spiel bringen. Die Haptik ist in vielen Bereichen dem Spartrieb und der Industrialisierung zum Opfer gefallen. Wenn jedes Papier, jede Karte sich gleich anfühlt, dann ist der Schritt zu E-Mails oder WhatsApp schnell gemacht. Auch die Handschrift, ein wesentliches Persönlichkeitsmerkmal verliert in der modernen Welt ihre Bedeutung leider immer mehr. Wobei gerade die Handschrift manchmal genau das ist, was uns berührt. Wie schön ist eine schöne Handschrift. Bei Grusskarten, Papieren und Büchern ist nicht allein der Text entscheidend, sondern die Verpackung. Übrigens, Bücher haben den angesagten Tod durch E-Books gut verkraftet und überlebt. Also, Fühlen ist Trumpf. Wie fühlt sich etwas an? Macht es Spass, es in Händen zu halten und es sogar zu streicheln? Passt das Gefühlte zur CI, zur Botschaft? Hier werden leider immer wieder gravierende Fehler begangen, nur weil man es sich selbst so einfach macht und Geld sparen will. Und die Papierindustrie hat ein derartig übergrosses Angebot, dass viel zu viele Kunden zum Schluss dann doch entscheiden, Standardpapier zu nehmen. Das halte ich für einen grossen Fehler. Auch die Formen und die Funktionen müssen unbedingt aus der Norm raus. Die Norm ist der Anfang vom Ende. Sie ist in der heutigen Zeit nicht nur nicht mehr notwendig, sondern absolut existenzgefährdend. Wichtige Botschaften brauchen eine wertvolle Verpackung, die der Botschaft und der Marke entsprechen. Gerade die physische Welt kann individuell sein.
Zum Schluss: Werden wir uns die Welt wohl auch noch in Zukunft ertasten oder sie bald fast nur noch visuell erfassen?
Ja, wir werden die Welt immer ertasten. Der grösste Fehler der Geschichte war, den Mensch als geistiges Wesen einzustufen. Wir sind keine geistigen Wesen, zumindest nicht hier auf Erden, sondern wir sind körperliche Wesen. Solange wir leben, haben wir unseren Körper und sind deshalb immer in Kontakt mit der Welt, in Berührung mit der Welt. Wir können gar nicht ohne Kontakt, ohne Berührung existieren. „Ich denke, also bin ich“ ist falsch. Richtig ist: „Ich fühle, also bin ich.“ Langsam merkt auch die moderne Wissenschaft, dass unser Körper mehr Einfluss auf uns hat als unser Bewusstsein. Wir sind immer auf der Suche nach angenehmen, nach interessanten Berührungserlebnissen, nach attraktiven Kontakten. In Wirklichkeit nicht nur, um die Dinge oder andere Lebewesen zu berühren, sondern um uns selbst zu erleben und zu erfahren, um uns zu erinnern, dass wir wirklich leben. Ohne Tasten gibt es kein Leben und deshalb werden wir unser Leben immer körperlich erfahren. Ohne Körper gibt es keine Gefühle, keine Emotionen.
Vielen Dank.
Karl Werner Schmitz: „Die Strategie der 5 Sinne“ Wiley VCH-Verlag, 234 Seiten, 24,99 €. |