Wir erleben gerade exponentielle Veränderungen und passen unsere Arbeitsweisen an. Aber wo geht die Reise hin? Sind wir noch agil oder längst schon teal? Diese Fragen beantwortet der Mit-Gründer und CEO des Beratungsunternehmens LIVEsciences Timm Urschinger.
Der Wandel schafft neue Möglichkeiten für wirtschaftlichen Fortschritt, gesellschaftlichen Wohlstand und menschliches Wohlergehen. Dennoch ist die Zukunft unvorhersehbar. Das erfordert eine offene Denkweise. Die meisten Menschen sind durchaus bereit dazu, fühlen sich jedoch zugleich überfordert und haben das Gefühl, immer mehr die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren. Die entscheidende Frage lautet: Was kann man als Einzelner und als Unternehmen tun, um trotz all dieser Herausforderungen nicht nur zu überleben, sondern zu gedeihen?
#1 Überlebensgrosse Neugierde
Erinnern wir uns an große Entdeckungen. Unabhängig davon, ob diese Entdeckungen die ganze Welt oder nur uns selbst betreffen, ziehen Menschen, denen das Lösen eines Problems am Herzen liegt, keine voreiligen Schlüsse. Sie beginnen mit einer überlebensgrossen Neugier. Dazu benötigen wir vor allem Geduld. Wir müssen (uns) Fragen stellen, Zweiflern entgegentreten, mit Widerständen kämpfen, bis sich enthüllt, was wirklich zählt. Auch wenn wir uns nicht immer daran erinnern, mussten wir alle im Leben einmal laufen und sprechen lernen – und sobald wir dies konnten, begannen wir unsere Umgebung zu erkunden. Das waren genau die Momente, in denen wir gelernt haben, unsere Probleme am schnellsten zu lösen – und sogar spielerisch und mit Freude. Daher der Rat: Seien Sie wieder mehr Kind!
#2 Alles beginnt mit Vertrauen und Transparenz
Alle reden über Selbstorganisation, autonome Teams und welche Kriterien man als Einzelner, Team oder Unternehmen erfüllen muss, um wirklich agil zu werden. Aber womit fängt man an? Die Erfahrung zeigt: Wenn wir fünf Personen im Unternehmen fragen, was die Grundlage einer agilen Organisation ist, erhalten wir fünf verschiedene Antworten. Dabei gibt es darauf nur eine Antwort: Die Basis jeder agilen Organisation bilden Vertrauen und Transparenz. Technische Details und Regeln sind nutzlos, wenn Führungskräfte, Chefs und Manager nicht selbst bereit sind, radikal transparent zu sein und ihren Mitarbeitenden zu vertrauen.
#3 Einen sicheren Raum schaffen
Wir alle kennen das Gefühl, wenn eine grosse Auswahl eher einschränkend wirkt. Vergessen Unternehmen, einen sicheren Raum für ihre Mitarbeitenden zu schaffen, ist Selbstorganisation das Schlimmste, was man Menschen antun kann. Und somit auch das grösste Risiko auf dem Weg zur Agilität. Denn mit der Selbstorganisation kommt auch die Verantwortung. Mitarbeitende sind plötzlich für ihre Aufgaben, Aktionen und Agenda selbst verantwortlich. Einige, die zuvor in hierarchischen Strukturen gearbeitet haben, werden dies nicht als befreiend empfinden – ganz im Gegenteil! Führungskräfte können (und müssen) ihren Mitarbeitenden helfen, indem sie einen sicheren Raum schaffen, in dem niemand eine professionelle Maske tragen muss, sondern jeder Mensch er selbst sein kann.
#4 Kreise sind nicht beweglicher als Pyramiden!
Agilität und die VUCA-Welt sind nicht nur Schlagworte. Um als Organisationen agil zu werden, gibt es viele Möglichkeiten. Aus pyramidenförmigen Strukturen werden holokratische Kreise. Netzwerkorganisationen stehen hoch im Kurs. Projektmanager heißen jetzt Scrum-Master. Aber hilft das Unternehmen wirklich dabei, agiler zu werden? Fakt ist: Struktur unterstützt die Entwicklung neuer Verhaltensweisen sowie das Verlernen alter Muster. Das ist es, was wir letztendlich in einer Transformation wollen. Deshalb gilt: Egal, für welchen agilen Weg sich Unternehmen entscheiden, es macht Sinn, drei Dimensionen zu beachten: erstens die kontinuierliche Weiterbildung in agilen Methoden und Tools. Zweitens die Investitionen in Denkweisen und Fähigkeiten der Mitarbeitenden. Und drittens die Entwicklung der richtigen Organisationsstruktur.
#5 Purpose macht Sinn
In unsicheren Zeiten konzentrieren sich Unternehmen heute mehr denn je darauf, Wachstum zu realisieren. Wachstum, das sich in der Regel in Zahlen niederschlägt. In Zukunft wird neben dem Wachstum aber ein Punkt immer wichtiger: Purpose! Denn es ist der Zweck, der Menschen überzeugt, der Kunden kaufen lässt. Mitarbeitende, die wissen, warum sie etwas tun, sind die stärksten Markenbotschafter. Aktiv setzen sie sich für ein gemeinsames Ziel ein. Und wer wünscht sich nicht die Synergie motivierter Mitarbeitender?
#6 Remote-Work – gekommen, um zu bleiben
Für viele wurde in den vergangenen Monaten ein Traum wahr: bequem von zu Hause arbeiten. Andere stürzten Homeoffice und Homeschooling in den Burnout. Und ein kleiner Teil weiss bis heute nicht, was denn nun eine gute, ja die beste Lösung ist. Eine der unbestreitbaren Tugenden der traditionellen Büroarbeit ist, dass Aufgaben nach einem Plan verwaltet werden. Inzwischen haben wir gelernt, verschiedene Techniken und Tools zu nutzen, die es uns ermöglichen, zu planen. Schaffen wir es dann noch, uns an diesen Plan zu halten, dann sind wir diejenigen, die das System regieren, anstatt von ihm regiert zu werden. Dann darf Remote-Work mit all seiner Freiheit gerne bleiben.
#7 Teal – das zukünftige Organisationsmodell
Die meisten Unternehmen streben nach Innovation, brechen aber keine Organisationsmuster. Das private Umfeld zeigt uns, dass wir die Wahl haben: entweder aus unserem Ego oder aus dem Bewusstsein des Ökosystems heraus zu handeln. Wie könnte unsere Welt aussehen, wenn wir diese Achtsamkeit auch im Business praktizieren? Wäre die Welt nicht ein schönerer Ort für uns alle? Tatsächlich wissen wir seit langem, dass neue Organisationsformen mit einer ganzheitlichen Sichtweise zu Wachstum auf allen Ebenen führen können. Agilität, Teal (nach Frederic Laloux, Autor von „Reinventing Organization“) und neue Arbeitsweisen sind für viele keine Fremdwörter mehr, sondern schlichtweg gesunder Menschenverstand.
Betrachten wir die Entwicklungen der letzten beiden Jahre, sind vor allem die Unternehmen spannend, die es verstanden haben, durch Weit- und Zuversicht mit dieser Krise umzugehen. Unternehmen, die nicht vor Angst erstarrt sind und sich in der selbst-fokussierten Umsetzung und Definition neuer Regeln verfangen haben. Es gibt sie sehr wohl: Arbeitgeber, die über den Tellerrand des Ego-Systems ihres Unternehmens hinausdenken. Wer auf seine Belegschaft hörte und Massnahmen umgesetzt hat, die Solidarität und gegenseitige Unterstützung ermöglichen, war gut beraten.
Timm Urschinger, Mitgründer, CEO, LIVEsciences. livesciences.com |