Sich mit der Zukunft der Arbeit zu beschäftigen bedeutet auch, sich auf diese vorzubereiten. Wir sprachen mit dem Schweizer Zukunftsforscher Lars Thomsen über die Digitalisierung der Arbeitswelt, Blockchain-Technologien und künstliche Intelligenz.

Büroblog Schweiz: Ihre Mutter war Kindergärtnerin, Ihr Vater Bauingenieur. Bei Diskussionen ging es in der Familie wahrscheinlich des Öfteren mal hoch her, wenn Vision auf Realität getroffen ist. Was haben Sie für sich daraus mitnehmen können?
Lars Thomsen: Schöne Frage. Als Kind und Heranwachsender erfuhr ich die Spannung zwischen dem Träumen oder Ausleben der Kreativität und der Frage des Machbaren. Ich lernte, dass man erst etwas bauen kann, wenn es auch den physikalischen Gesetzen genügt. Gleichzeitig lernte ich, mich mit kritischen Fragen auseinanderzusetzen: „Braucht das jemand?“ oder „Ist das sinnvoll?“ Dabei habe ich gemerkt, dass Utopie – also Gedanken über Dinge, die es noch nicht gibt – eine wichtige Rolle spielt, aber eben auch die technischen und ökonomischen Dimensionen nicht vernachlässigt werden dürfen. Wenn wir also von Innovation und Zukunft sprechen, müssen wir uns überlegen, wie sie sich umsetzen lassen. Wir müssen aber auch bereit sein, uns etwas vorzustellen, das es noch nicht gibt. Utopie bedeutet, dass wir unseren Kopf und unsere Kreativität nutzen und uns die Zeit und den Raum nehmen, zu überlegen, wie es wäre, wenn.
Das klingt zunächst ziemlich einfach.
Vielen Menschen fällt es schwer, sich darauf einfach mal einzulassen. Natürlich dürfen wir nicht nur Luftschlösser bauen, Träumer und Fantasten sein. Und natürlich braucht es auch genauso viele oder gar mehr, die all das umsetzen können. Die Frage „Glaube ich an das eine oder an das andere?“ kann dabei zu hitzigen Diskussionen führen. Mittel- bis langfristig werden sich jedoch die Innovationen durchsetzen, die Menschen mögen und für die sie bereit sind, Geld auszugeben, da ihr Leben damit besser wird. Insofern werden Innovatoren erste Angebote entwickeln, die Menschen ausprobieren können und auf deren Basis sie sich ihre Meinung bilden.
Für erfolgreiche Innovationen bedarf es dreier Dinge: Ein Quäntchen Utopie, die Prüfung des Möglichen und innovative Menschen, die den Mut haben, sie auszuprobieren. Dann entscheidet der Kunde, ob die Ideen erfolgreich werden oder nicht. Wichtig dabei ist, dass wir uns mit Dingen auseinandersetzen und Entscheidungen auf einer informierten Basis treffen, anstatt es allein unserem Bauchgefühl zu überlassen oder der Frage, woran wir glauben oder eben auch nicht.
Was macht ein Zukunftsforscher eigentlich? Wie viel von Ihrer Arbeit besteht aus dem Blick in die Kristallkugel und wie viel macht die Analyse bzw. die Auswertung von Daten und Fakten aus?
Es gibt eine lange Antwort und eine kurze. Ich fange mal mit der kurzen an. Am besten arbeitet man als Zukunftsforscher, wenn man neugierig bleibt und mit möglichst vielen Leuten spricht, die an der Zukunft arbeiten. Zukunftsforschung hat also weniger mit dem Lesen einer Kristallkugel und dem Auswerten und Analysieren von Daten und Fakten aus der Vergangenheit zu tun. Ich verbringe viel mehr Zeit damit, mich mit den Gedanken oder Themen innovativer Menschen zu beschäftigen, von denen ich lese oder höre – das können Beiträge auf einem Kongress sein, Fachartikel oder Personen, die neue Konzepte vorschlagen. Dann überlege ich mir, wie ich diese Utopie einschätze und wie, wann sowie zu welchen Kosten dies umzusetzen wäre.
Oftmals treten wir dann auch in einen direkten Austausch mit diesen Menschen. Wir fragen unsere Gesprächspartner, zu welchem Zeitpunkt sie die Tipping-Points erwarten, wann sie die Disruption erwarten oder wie es um die ökonomischen Aspekte steht. Wenn man jedes Jahr mit hunderten von Leuten spricht, die an der Zukunft arbeiten, bekommt man ein gutes Bild davon, was im Moment so läuft und woran gearbeitet wird. Zukunftsforschung ist also keine Voodoo-Wissenschaft, kein Kristallkugellesen oder eine besondere Fähigkeit, sondern eine gute Mischung aus Neugier und Spass an Innovationen.

Aber macht Veränderung nicht auch Angst?
Ich denke, dass wir nur Angst vor den Dingen haben, die wir nicht kennen – und das lässt sich auf zahlreiche Bereiche unseres Lebens und unserer Kultur übertragen. Hat man keinen Kontakt zu anderen Kulturen, hat man wahrscheinlich mehr Angst davor, als wenn man damit schon als Kind aufgewachsen ist. Sobald man die Menschen aus anderen Kulturen kennenlernt, merkt man, dass sie ähnliche Gedanken, Gefühle und Themen haben wie man selbst und dann baut sich die Angst ganz von allein ab. Mit Zukunft und Innovationen ist es eigentlich genauso. Sobald man sich zum Beispiel mit künstlicher Intelligenz beschäftigt, kann man diese besser differenzieren und kann somit deren Potenziale und Gefahren besser ein- und abschätzen.
In der ECM-Branche werden immer noch strukturierte digitale Daten in ein Papierdokument konvertiert, das dann beim Empfänger später wieder mit ECM-Lösungen digitalisiert wird. Wie sehen Sie dieses Thema?
Ich bin immer wieder erstaunt, wie lange Prozesse dauern. Schliesslich haben wir schon in den 1980er- und 1990er-Jahren über Medienbrüche gesprochen und es ist einfach komplett logisch, dass das Abtippen von Dokumenten oder Ausdrucken von Rechnungen totaler Wahnsinn ist. Meiner Meinung nach ist der Begriff „Digitalisierung“ bei Weitem keiner, der beschreibt, was im Moment stattfindet. Digitalisierung ist der Trend, bei dem wir von analogen Technologien auf digitale umschwenken. Eigentlich haben wir auch schon fast alles digitalisiert – bis auf eben diese noch verbliebenen Brüche oder Schnittstellen. Sie kosten Unternehmen und Volkswirtschaften enorm viel Produktivität und Geld. Natürlich spielen rechtliche Aspekte, wie konsequent sich die Gesetzgebung mit diesen Potenzialen auseinandersetzt, ebenfalls eine Rolle. Doch wir stehen immer stärker in einem globalen Wettbewerb um Effizienz und Qualität, sodass diesem Problem mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden wird.
Auch Nebentrends, wie Blockchain-Technologien und künstliche Intelligenz, werden zukünftig einen grossen Einfluss darauf haben, wie wir Prozesse definieren und verstehen. Viele Routinen, die heute noch von Menschen bearbeitet werden, werden in naher Zukunft komplett von intelligenten IT-Systemen übernommen. Dies ist ein grosser Umbruch, der für viele Menschen den Begriff Arbeit neu definieren wird. Ich spreche immer gern von 260 Wochen, also den kommenden fünf Jahren. Es sieht so aus, als würde dieser Umbruch in dieser Zeit in weiten Teilen unserer Wirtschaft vollzogen werden. Denn jetzt kommen diese verschiedenen Technologien zusammen – sie sind verfügbar, sie sind standardisiert und sie machen auf einmal in ihrer intelligenten Kombination Sinn. Sie nicht zu nutzen, kommt im Grunde genommen einer Kapitulation gleich.
Muss also der Begriff des Arbeitens neu gedacht werden?
Ja, genau. Bis die Dampfmaschine erfunden wurde, dachten wir, dass Arbeit und Produktion durch die Knappheit von Muskeln beschränkt ist. Diese singuläre Innovation hat in den Folgejahrzehnten unsere gesamte Industrie und Gesellschaft verändert, weil auf einmal eben nicht mehr die Muskelkraft das bestimmende Element unserer Arbeit war, sondern unser Können, unser Wissen – und unsere Fähigkeit, mit der Mustererkennung unseres Gehirns zu lernen und Prozesse zu gestalten.
Bei Future Matters werten wir die künstliche Intelligenz als die neue Dampfmaschine unseres Jahrhunderts, weil wir jetzt komplett neu definieren, was die Inhalte produktiver Tätigkeiten sind. Wir müssen uns darauf einstellen, dass eine E-Mail zu lesen, sie zu verstehen und darauf zu antworten zukünftig keine Arbeit mehr sein wird. Selbiges gilt für die Frage der Wertschöpfung: „Bin ich bereit, jemandem 5.000 Euro im Monat zu bezahlen, damit er an einer Maschine sitzt und E-Mails liest, empfängt oder meine Rechnungen verbucht?“ Die Antwort darauf ist ganz klar: nein!
Nicht nur Corona, sondern auch eine neue Mitarbeitergeneration hat das Denken über den Sinn der Arbeit und über Mitarbeiterführung verändert. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Eigentlich sind wir Menschen immer auf der Suche danach, unser Leben angenehmer, komfortabler oder weniger arbeits- und stressintensiv zu machen. Eigentlich ist das, was jetzt passiert, Teil einer ganzen Kette der menschlichen Innovation. Wir sitzen derzeit oft Nine-to-five am Schreibtisch, ohne unser Tun nur ansatzweise infrage zu stellen. Auf der anderen Seite sehen wir Leute, die sehr selbstbestimmt lernen, arbeiten, reisen und darüber nachdenken, wie, wann und wo sie arbeiten möchten. Und das alles, weil die Digitalisierung es möglich macht. Allein in den letzten 260 Wochen haben sich neue Berufe und Tätigkeiten gebildet, für die es noch nicht einmal Ausbildungsgänge gibt. Wir sollten vielleicht einfach mal ein bisschen hinter die Kulissen schauen und uns fragen, was das möglich macht, was es bedeutet und was wir daraus lernen können.
Wir stehen kurz vor einem weiteren riesigen Umbruch, der für unsere Gesellschaft, Wirtschaft und Politik sicher nicht einfach werden wird. Für einige wird er gut sein, aber viele Leute werden auch versuchen, diesen Umbruch zu bekämpfen oder zu verzögern. Es ist unsere Entscheidung, ob wir mit Umbrüchen und Innovationen produktiv und wertstiftend umgehen oder darauf hoffen, dass alles bleibt, wie es immer war.
Vielen Dank.