In seiner Kolumne erläutert Timm Urschinger, CEO der Schweizer LIVEsciences AG, neue und innovative Organisationsmodelle für Unternehmen. Im zweiten Teil geht es um den Begriff Governance und dessen Bedeutung für die Struktur von Organisationen.
Governance – ein großer Begriff, der allzu gern und vielfältig verwendet wird. Wohl auch deshalb, weil sich Organisationen damit schmücken möchten. Dabei ist Governance im wirtschaftlichen Zusammenhang nichts anderes als Unternehmensführung, also ein Steuerungs- und Regelungssystem, das Strukturen schafft, um Ziele leichter zu erreichen. Corporate Governance bezeichnet laut Gabler-Wirtschaftslexikon „den rechtlichen und faktischen Ordnungsrahmen für die Leitung und Überwachung eines Unternehmens“. Das ist wichtig, weil „unvollständige Verträge und unterschiedliche Interessenslagen (...) den Stakeholdern prinzipiell Gelegenheiten wie auch Motive zu opportunistischem Verhalten“ bieten.
Governance – was wichtig ist und warum
Generell muss man sich bei Governance immer die Frage stellen: Müssen wir das wirklich firmenweit regeln? Die Balance zwischen Autonomie und Alignment, sprich einer gemeinsamen Ausrichtung, ist für jede Organisation wichtig. Ansonsten herrscht Chaos und Ziellosigkeit. Wenn die gesamte Organisation nicht in eine ähnliche Richtung geht, wird es schnell ineffektiv. Das Problem ist, dass viele Unternehmen das Korsett so eng ziehen, dass die definierte Richtung keinen Spielraum für Innovation, Ideen oder Freude zur Gestaltung zulässt. Aus diesem Grund ist die Balance sehr wichtig: Sie sollte gedanklich lange vor der Governance eine Rolle spielen.
Apropos Rollen: Im ersten Teil dieser Kolumne haben wir uns mit dem rollenbasierten, im Gegensatz zum jobbasierten Arbeiten beschäftigt. Es hat sich gezeigt, dass sowohl klassische Rollen als auch komplett neu anmutende Rollen wichtig im New Work sind. Das hängt auch damit zusammen, dass im Jahr 2022 viele Praktiker aus dem Personalwesen, der Organisationsentwicklung und Unternehmensberatung davon ausgehen, dass Organisationen mit flacheren Strukturen und mehr horizontalen Bewegungen leistungsfähiger sind als ihre bürokratischen und hierarchischen Gegenstücke.
Das Spektrum der Hierarchien
Wir wissen, dass die Verschlankung von Organisationen zahlreiche Vorteile mit sich bringt: bessere Kommunikation, schnellere Entscheidungsfindung, mehr Eigenverantwortung und Innovation sowie höhere Produktivität. Es gibt natürlich auch Nachteile, wenn sie nur halbherzig umgesetzt wird. Wichtig zu wissen ist, dass es eine Menge Grauzonen zwischen dem Schwarz und dem Weiß der vertikalen und horizontalen Strukturen gibt.
Oft entscheiden sich Unternehmen beispielsweise dafür, die Merkmale von vertikalen und horizontalen Organisationen zu mischen, anstatt sich ganz auf eine der beiden zu konzentrieren. Das hat gute Gründe: Manchmal bevorzugen Mitarbeitende ein gewisses Maß an Starrheit und Hierarchie. Wenn die Karriere im Vordergrund steht, fällt es manchen Menschen schwer, sich seitwärts zu bewegen, anstatt die Unternehmensleiter wie geplant zu erklimmen. In diesem Fall gilt es, genauer zu beleuchten, wie Karrierebedürfnisse mit einer modernen Governance in Einklang gebracht werden können.
Für eine moderne Governance in bestehenden, vor allem in größeren Organisationen ist in vielen Fällen ein hybrides System am sinnvollsten. Unternehmen sollten die Hierarchien erst einmal langsam abflachen. Um den Mitarbeitenden vertraute Sicherheit zu vermitteln, werden beispielsweise weiterhin Stellenbezeichnungen zur Abgrenzung verwendet, während sie im Tagesgeschäft ignoriert werden. Die Teams arbeiten stattdessen rollenbasiert und die Interaktionen zwischen den Mitarbeitenden bestimmen, wer situativ zu Mentoren und Führungskräften wird.
Die Governance bei LIVEsciences
Natürlich gibt es im kleineren Setup die Möglichkeit, komplett rollenbasiert und selbstorganisiert zu agieren. Bei LIVEsciences ist es vor allem wichtig, dass Governance immer die Realität abbildet und nicht generische Jobbeschreibungen. Das trägt zur Klarheit bei, was wer wirklich tut – statt nur irgendetwas ohne Aussagekraft und aktuellen Bezug auf dem Papier zu haben. Klassische Organigramme bergen vor allem ein Problem: Es werden Leute aufgrund ihres Status oder ihrer Position involviert, die nicht involviert werden sollten. Oftmals eben auch, weil nicht klar ist, wer wofür zuständig ist.
Bei LIVEsciences arbeiten wir daran, so viel wie nötig, aber so wenig wie möglich durch Regeln festzuzurren. Unsere Arbeit und Governance ist größtenteils prinzipienbasiert. Der Vorteil: Prinzipien sorgen dafür, dass wir unseren Werten treu sind, gewisse Effekte fördern und damit eine Identität und Kultur schaffen sowie ein einheitliches Bild gegenüber unseren Kunden und Lieferanten erzielen. Gleichzeitig bedeuten Prinzipien, dass das WAS offenbleibt und damit das Team oder einzelne Personen alle Freiheiten haben. Für unsere Prozesse gilt, dass sie immer den Werten der LIVEline entsprechen müssen – und daraufhin geprüft werden.
LIVEline = Leitbild „Die LIVEline fasst zusammen, wer wir sind und was wir bei der Zusammenarbeit für richtig halten. Daher nutzen wir diese als Plattform, um herauszufinden, wer bei LIVEsciences AG arbeiten möchte, oder wir diskutieren über Situationen in unserem täglichen Arbeitsleben. Wir laden hier jeden ein, herauszufinden, warum es dieses Unternehmen gibt, was uns wirklich wichtig ist und wie wir miteinander umgehen.“ |
Governance in lebenden Organisationen
In klassischen Organisationen wird alle zwei bis vier Jahre restrukturiert. Ein lebender Organismus sollte sich aber viel schneller anpassen. Bei LIVEsciences heißt das nach Holakratie/Soziokratie inzwischen spannungsbasiertes Arbeiten. Wir entscheiden bei Spannungen (Tensions) immer: Betrifft das die Arbeit IM oder AM System?
Wenn es IM System ist, gibt es den Tension-Prozess wie in der LIVEline mit verschiedenen Orten, um die Dinge anzusprechen: im Teammeeting, 1:1 oder in einem spezifischen „Tension-Meeting“, welches monatlich stattfindet, um die größeren Spannungen in der Gruppe abzuholen. Wenn es etwas AM System betrifft, behandeln wir die Spannungen und Vorschläge im Governance-Meeting. Das heißt nicht, dass die Rollen jeden Monat massiv umgestaltet werden oder sich hinsichtlich Governance alles ändert. Es sind oft kleinere Änderungen, Anpassungen von Verantwortlichkeiten etc. Das Governance-Meeting findet monatlich statt, das heißt LIVEsciences als Organismus aktualisiert sich jeden Monat. Genau diese Geschwindigkeit macht ein erfolgreiches New-Work-Setup aus.
Timm Urschinger, Mitgründer und CEO, LIVEsciences. |