In seiner Kolumne erläutert Timm Urschinger, CEO der Schweizer LIVEsciences AG, neue und innovative Organisationsmodelle für Unternehmen. Der dritte Teil zeigt, wie alle Mitarbeitenden an unternehmerischen Entscheidungsprozessen durch Selbstorganisation teilhaben können.

Agile oder selbstorganisierte Unternehmen benötigen eher mehr als weniger Führungskräfte! Paradox, oder? Aber einfach erklärt: Weil jeder eine Führungspersönlichkeit ist, übernehmen auch alle Führung – im Gegensatz zu den wenigen Auserwählten in traditionellen hierarchischen Organisationen. Es ist ein interessanter Spagat, seiner eigenen Verantwortung gerecht zu werden, ohne dabei zu direktiv oder zu kontrollierend zu wirken.
Hohe Erwartungen und Forderungen erfüllen
In diesem Beitrag möchte ich darauf eingehen, wie Selbstorganisation im New-Work-Alltag tatsächlich funktioniert. Sozusagen ein Deep Dive in unser eigenes Vorgehen. Wohlwissend, dass auch wir täglich dazulernen. Weil sich nicht nur das Umfeld und der Markt verändern, sondern auch wir selbst als Menschen und mit uns die Organisation es tut. Als CEO nach aussen und als Führungskraft (unter vielen) nach innen. Und obwohl oder gerade weil wir uns als Unternehmen selbst verwalten, wird mir immer wieder bewusst: Es gibt durchaus hohe Erwartungen und Forderungen nach Führung und Autonomie zugleich. Bei der Fülle an Konzepten, Methoden und Führungsideen, die es bereits gibt und denen wir folgen, ist für mich ein Gedanke zentral: Wir müssen anerkennen, dass wir nicht alles wissen. Denn nur so sind wir in der Lage, Meinungen loszulassen bzw. diese von echten Einwänden zu unterscheiden, um der Verantwortung gerecht zu werden, die wir für alles um uns herum und uns selbst haben.
Das authentische Ich und die Potenzialentwicklung
Selbstorganisation und Integrität gehören zu unseren Grundwerten, die sich in unserem vollständig horizontal (rollenbasiert) strukturierten Team widerspiegeln. Auf der Grundlage von Frederic Lalouxs Buch „Reinventing Organizations“ und seiner Beschreibung einer „Teal Organisation“ orientieren wir uns an drei Grundpfeilern: Selbstmanagement, Sinn & Zweck (Purpose) und Ganzheitlichkeit. Es ist uns wichtig, dass alle unsere Catalysts ihr authentisches „Ich“ am Arbeitsplatz ausleben und ihr Potenzial eigenständig entfalten.

Die Einführung der Selbstorganisation bedeutete für uns das Loslassen von Kontrolle. Das führte zur Befähigung aller Mitarbeitenden bis zu dem Punkt, an dem sie sogar über die Einlagen der Gründungsmitglieder als Gründungskapital des Unternehmens entscheiden konnten. In unserer flachen Hierarchie ist jeder Catalyst eine agile Führungspersönlichkeit. Dabei spielt Empowerment eine entscheidende Rolle. Also die Befähigung aller, ein sicheres Umfeld zu schaffen, in dem sich jeder ermutigt fühlt, neue Dinge auszuprobieren, Entscheidungen zu treffen und keine Angst hat, Verantwortung zu übernehmen, wenn etwas nicht funktioniert. Wichtig dabei ist das Bewusstsein, dass der Aufbau und die Aufrechterhaltung eines solchen Umfelds auch in selbstorganisierten Unternehmen keine einmalige Angelegenheit ist, sondern ein fortlaufender Prozess.
Grenzenlose Freiheit für sinnvolle Ziele
Im Idealfall werden Menschen in selbstorganisierten Unternehmen dazu ermutigt, sich die Freiheit zu nehmen, ein Ziel zu verfolgen, das für sie selbst, die Organisation und die Gesellschaft sinnvoll ist. Das Prinzip des Selbstmanagements ermöglicht es jedem Einzelnen, eine fast grenzenlose Freiheit zu erleben. Wobei diese Freiheit auch bedeutet, wählen zu müssen, zu priorisieren und sich selbst zu führen. Die Grenzenlosigkeit erfordert oft mehr Reife, gerade im Gegensatz zu engeren Grenzen. Freiheit mit allen Vor- und Nachteilen: Das zu tun, was man möchte, auch wenn man dabei viele Pflichten erfüllt. Beides geht Hand in Hand. Unter einer Voraussetzung: Da sich heute alles schnell bewegt und sich regelmässig unsichere und neuartige Situationen ergeben, ist es wichtig – dafür müssen alle ein Bewusstsein entwickeln –, sich selbst und seine Rolle innerhalb der Organisation immer wieder intensiv zu reflektieren.
Es zeigt sich, dass bei LIVEsciences durch die vollständige Transparenz der Gehälter und Finanzen wir als Catalysts in der Lage sind, eigenständig Entscheidungen zu treffen und notwendige Veränderungen voranzutreiben. Natürlich benötigt es dafür ein hohes Mass an Verständnis für die Richtung und Strategie der Firma. Man muss wissen, wie das Geschäft wirklich funktioniert. Deshalb stehen die Kollegen bei Bedarf immer mit Rat zur Seite. Ausserdem tauschen wir uns in Meetings über unsere Zahlen aus und bekommen so ein Gefühl dafür, was wir beachten müssen, um zum Erfolg unseres Unternehmens beizutragen.

Living organism erlaubt schnelle Entwicklung
Wie bereits erwähnt, sind bei LIVEsciences alle gleichberechtigt. Somit können sie Veränderungen eigenständig vorantreiben. Wir leben nach der Devise des „living organism“. Diese stetige Veränderung gehört auch bei unseren Rollen dazu. Wie im zweiten Teil der Kolumne zum Thema Governance erwähnt, nutzen wir ein monatliches Governance-Meeting, um an unserem System zu arbeiten. So entwickelt sich dieses immer weiter. Hat jemand aus dem Team eine Tension (=Spannung) bzw. einen Vorschlag für eine neue Rolle oder möchte eine bereits existierende Rolle verändern, arbeiten wir in fünf Schritten daran:
- Tension aufzeigen: Potenzial, Lücke, Beobachtungen, Problemstellung, Hintergrund: Wie ist es dazu gekommen?
- Aktuellen Zustand beschreiben: Prozesse, Gewohnheiten, Rituale: Was soll verändert werden?
- Veränderung vorschlagen: Wie sieht der persönliche Wunsch aus?
- Zukünftiger Zustand: endgültige Dokumentation der Rolle inkl. Änderungen.
- Kollegiale Rollenwahl: Definition und Besetzung der Rolle.
Im Governance-Meeting wird die neue Rolle dann von der jeweiligen Person, die den Vorschlag gemacht hat, vorgestellt. Es wird im Team über die Einführung des Vorschlags entschieden.
Bei LIVEsciences werden alle ermutigt, innerhalb des Systems, aber auch an diesem selbst zu arbeiten, indem wir die Organisation, ihre Praktiken, Prozesse und Rollen auf der Grundlage unserer Spannungen weiterentwickeln. Fast eine Sicherheitsmassnahme, um keine bürokratischen Strukturen aufzubauen, die niemandem dienen, oder neue Machtstrukturen zu schaffen, die sich nur schwer wieder abbauen lassen, wenn sie sich einmal manifestiert haben.
![]() Timm Urschinger, Mitgründer und CEO, LIVEsciences. |