In seiner Kolumne erläutert Timm Urschinger, CEO der Schweizer LIVEsciences AG, neue und innovative Organisationsmodelle für Unternehmen. Der sechste Teil zeigt die Grenzen des traditionellen Leistungsmanagements auf und welcher Ansatz stattdessen gewählt werden kann.
Die Society for Human Resources Management (SHRM) stellt fest: „90 Prozent der Leistungsbeurteilungen von Mitarbeitenden sind mühsam und ineffektiv”. Eine Umfrage von CEB (jetzt gartner.com) mit 13.000 Arbeitnehmern weltweit zeigt ein ähnliches Bild: „66 Prozent der Arbeitnehmer geben an, dass der Prozess der Leistungsbeurteilung ihre Produktivität beeinträchtigt, und 65 Prozent sagen, dass der Prozess nicht einmal für ihre Arbeit relevant ist.” Dabei ist in der heutigen Arbeitswelt eine veränderungsfähige und experimentierfreudige Kultur gefragt, die sowohl die persönliche Entwicklung des Einzelnen als auch die kollektive Entwicklung eines Teams durch kontinuierliches Lernen ermöglicht. Dies sind genau die Anreize, die das traditionelle Leistungsmanagement – sowohl inhaltlich als auch monetär – nicht mehr bietet oder sogar zerstört.
Performance Management und selbstbestimmte Gehälter
Der tayloristische Ansatz, die industrielle Effizienz zu steigern und alles und jeden individuell messbar zu machen, steht im Widerspruch zur zunehmenden Autonomie und den wachsenden Teamstrukturen, einschließlich Projektarbeit, Netzwerken und Solidarität. Die Probleme mit den derzeitigen Methoden der Leistungsbeurteilung lassen sich wie folgt zusammenfassen:
- Die Beurteilung von Personen aufgrund vergangener Leistungen steht im Gegensatz zu möglichen Verbesserungen in „Echtzeit“.
- Jährliche Leistungsbeurteilungen sind nachweislich nicht hilfreich, da sich die Gedanken der Mitarbeitenden in der Regel auf die jüngsten Ereignisse (4–6 Wochen) konzentrieren und nicht auf die Entwicklungen und Leistungen davor.
- Welche Ziele vom Jahresanfang machen überhaupt Sinn, um im letzten Quartal darauf hinzuarbeiten?
- Der Prozess ist für alle Beteiligten (insbesondere für die Führungskräfte) sehr zeitaufwändig.
- Richtig ist aber auch, dass Leistungsbewertungen KEIN Leistungsmanagement sind!
All dies diente in der Vergangenheit der Kontrolle, ist heute jedoch wenig hilfreich, wenn es darum geht, das wirkliche und so wertvolle Potenzial der Mitarbeitenden freizusetzen. Agile Prinzipien sind daher auch im Leistungsmanagement gefragt. Es geht nicht mehr um Produktivität und Output, sondern um Kreativität, Innovation und Wissensarbeit. Folglich muss es mehr Raum für Autonomie, Zielstrebigkeit und für das Erreichen einer Kompetenz in bestimmten Dingen geben, die uns als Menschen, als Führungskräfte und Mitarbeitende sowie als Leistungsträger voll erfüllt.
Empowerment als Lösung!?
Wenn heutzutage von Agilität, Selbstorganisation oder Teal die Rede ist, scheint Empowerment der Kern vieler Konzepte zu sein, die in Organisationen verwendet werden – und doch scheinen viele noch immer mit „echter Befähigung“ zu kämpfen. Zu breit und tief ist oft der Graben zwischen denjenigen, die führen, und denjenigen, die geführt werden – vor allem was das Verständnis hinsichtlich Leistung(-sfähigkeit) und entsprechender Entlohnung anbelangt. In unserer LIVEline heißt es deshalb, dass jeder als Unternehmer handelt und die Entscheidungsfindung eindeutig und unmissverständlich sowie für alle einsehbar beschrieben ist (vgl. LIVEline Kapitel 5 und 8). Die Entscheidung, diese Grundsätze auch bei den Gehältern zu befolgen, war für uns als Organisation von Anfang an klar. Bereits 2018 wurde in einer unserer Governance-Sitzungen deshalb Folgendes beschlossen:
- Jeder bestimmt sein Gehalt selbst.
- Der „Advice Prozess“ ist für die Vergütung so definiert, dass man sich von allen Kollegen im Unternehmen (circa 20 Personen) Feedback einholt, was man ihrer Meinung nach verdienen sollte. So wird das vorgeschlagene Gehalt in Kontext gesetzt. Dabei hat übrigens jeder seine eigenen Kriterien für die Bestimmung des jeweiligen Gehaltes; es gibt keine generell gültigen Kriterien im Team.
- Aufbauend auf dem „Jeder ist ein Unternehmer“-Prinzip sollte die Vergütung „Grundgehalt + Risikobonus“ sein – der Einsatz für den „LIVEtopf“ bzw. Risikotopf kann individuell festgelegt werden und ist grundsätzlich kein „Muss“.
- Der Risikobonus wird nicht auf der Grundlage individueller KPIs berechnet, sondern basiert vielmehr auf der individuellen Risikobereitschaft und dem unternehmensweiten Erfolg des Jahres. Wir sitzen alle im selben Boot, warum also unterschiedliche Bonushöhen? Anmerkung: Der Risikobonus setzt sich zusammen aus der individuellen Einzahlung eines Teammitglieds mittels eines monatlichen Beitrages in den LIVEtopf, welcher am Ende des Jahres mit dem Unternehmenserfolg verrechnet und anteilsmäßig (wie eingezahlt) jedem Teammitglied in Form eines „Bonus“ wieder ausbezahlt wird.
- Verkündung des final gesetzten Gehaltes sowie des LIVEtopf-Einsatzes in einem Team-Meeting. Der Inhaber der Finanzrolle könnte hier im letzten Schritt noch Veto einlegen, falls die neuen Gehälter für das Unternehmen finanziell nicht verträglich wären. Hierbei ist nur die Summe, nicht aber die individuellen Gehälter entscheidend.
Transparenz in der praktischen Umsetzung
Transparenz ist ein entscheidender Faktor für den Erfolg selbstorganisierter Teams. Entsprechend haben wir uns dafür entschieden, unsere Gehälter transparent zu machen. Als wir 2018 den Prozess für die selbstbestimmten Gehälter eingeführt haben, wurden sie von jedem zeitnah in einem Google-Sheet, auf das jederzeit jedes Teammitglied zugreifen kann, geteilt. Dieses Jahr entschieden wir uns jedoch dazu, dass unser Rolleninhaber Finanzen alle Gehälter wie Gehaltsempfehlungen der Kollegen erst sammelt und in einem zweiten Schritt für alle transparent teilt. Damit versuchen wir eine Verzerrung zu vermeiden. Beispiel: Ich setze für mich und die Kollegen ein Gehalt fest und teile es direkt. Die Kollegen würden es sofort sehen und möglicherweise nicht mehr unvoreingenommen entscheiden.
Man kann sich vorstellen, dass der Advice-Prozess bzw. der Gehaltsvorschlag für alle eine große Herausforderung darstellen kann. Wie könnte ich jemanden, mit dem ich im vergangenen Jahr nicht (viel) gearbeitet habe, sinnvoll einschätzen? Schließlich sind wir Berater und sehen uns daher nicht jede Woche. Und trotzdem hielten wir es für eine gute Idee, das zu tun, was oben beschrieben wurde – subjektive, empfundene Fairness ist auch eher emotional als rational. Warum also nicht trotzdem einen Beitrag leisten?
Was wir gelernt haben?
- Die Angst vor Ratschlägen für Kollegen, mit denen ich noch nicht viel zusammengearbeitet habe, verfliegen schnell. „Just do it“ ist für diesen Teil des Prozesses ein guter Ratschlag!
- Interessanterweise haben wir keine große Spanne bei unseren Zahlen. Die Vorschläge liegen alle ziemlich nah beieinander, aber die Gründe dafür sind sehr unterschiedlich. Das spiegelt wohl unsere unterschiedlichen Werte, Erfahrungen und Präferenzen wider und hat uns keine Probleme, sondern gute Diskussionen und Erkenntnisse beschert.
- Nach jedem Gehaltsprozess (einmal im Jahr) setzen wir uns zu einer Retrospektive zusammen, um Verbesserungen zu diskutieren. Wir arbeiten stetig an diesem Konzept und lernen jedes Jahr wieder etwas Neues dazu. New Work eben 😉
Timm Urschinger, Mitgründer und CEO, LIVEsciences. |