New Work – Beyond the hype #6/7

In sei­ner Kolum­ne erläu­tert Timm Urschin­ger, CEO der Schwei­zer LIVE­sci­en­ces AG, neue und inno­va­ti­ve Orga­ni­sa­ti­ons­mo­del­le für Unter­neh­men. Der sech­ste Teil zeigt die Gren­zen des tra­di­tio­nel­len Lei­stungs­ma­nage­ments auf und wel­cher Ansatz statt­des­sen gewählt wer­den kann.

Selbstbestimmt durch den Arbeitsalltag ist eines der Ideale eines neuen Arbeitens. Abbildung: Shutterstock Nr. 2191257935
Selbst­be­stimmt durch den Arbeits­all­tag ist eines der Idea­le neu­en Arbei­tens. Abbil­dung: Shut­ter­stock Nr. 2191257935

Die Socie­ty for Human Resour­ces Manage­ment (SHRM) stellt fest: „90 Pro­zent der Lei­stungs­be­ur­tei­lun­gen von Mit­ar­bei­ten­den sind müh­sam und inef­fek­tiv”. Eine Umfra­ge von CEB (jetzt gartner.com) mit 13.000 Arbeit­neh­mern welt­weit zeigt ein ähn­li­ches Bild: „66 Pro­zent der Arbeit­neh­mer geben an, dass der Pro­zess der Lei­stungs­be­ur­tei­lung ihre Pro­duk­ti­vi­tät beein­träch­tigt, und 65 Pro­zent sagen, dass der Pro­zess nicht ein­mal für ihre Arbeit rele­vant ist.” Dabei ist in der heu­ti­gen Arbeits­welt eine ver­än­de­rungs­fä­hi­ge und expe­ri­men­tier­freu­di­ge Kul­tur gefragt, die sowohl die per­sön­li­che Ent­wick­lung des Ein­zel­nen als auch die kol­lek­ti­ve Ent­wick­lung eines Teams durch kon­ti­nu­ier­li­ches Ler­nen ermög­licht. Dies sind genau die Anrei­ze, die das tra­di­tio­nel­le Lei­stungs­ma­nage­ment – sowohl inhalt­lich als auch mone­tär – nicht mehr bie­tet oder sogar zerstört.

Performance Management und selbstbestimmte Gehälter

Der tay­lo­ri­sti­sche Ansatz, die indu­stri­el­le Effi­zi­enz zu stei­gern und alles und jeden indi­vi­du­ell mess­bar zu machen, steht im Wider­spruch zur zuneh­men­den Auto­no­mie und den wach­sen­den Team­struk­tu­ren, ein­schließ­lich Pro­jekt­ar­beit, Netz­wer­ken und Soli­da­ri­tät. Die Pro­ble­me mit den der­zei­ti­gen Metho­den der Lei­stungs­be­ur­tei­lung las­sen sich wie folgt zusammenfassen:

  • Die Beur­tei­lung von Per­so­nen auf­grund ver­gan­ge­ner Lei­stun­gen steht im Gegen­satz zu mög­li­chen Ver­bes­se­run­gen in „Echt­zeit“.
  • Jähr­li­che Lei­stungs­be­ur­tei­lun­gen sind nach­weis­lich nicht hilf­reich, da sich die Gedan­ken der Mit­ar­bei­ten­den in der Regel auf die jüng­sten Ereig­nis­se (4–6 Wochen) kon­zen­trie­ren und nicht auf die Ent­wick­lun­gen und Lei­stun­gen davor.
  • Wel­che Zie­le vom Jah­res­an­fang machen über­haupt Sinn, um im letz­ten Quar­tal dar­auf hinzuarbeiten?
  • Der Pro­zess ist für alle Betei­lig­ten (ins­be­son­de­re für die Füh­rungs­kräf­te) sehr zeitaufwändig.
  • Rich­tig ist aber auch, dass Lei­stungs­be­wer­tun­gen KEIN Lei­stungs­ma­nage­ment sind!

All dies dien­te in der Ver­gan­gen­heit der Kon­trol­le, ist heu­te jedoch wenig hilf­reich, wenn es dar­um geht, das wirk­li­che und so wert­vol­le Poten­zi­al der Mit­ar­bei­ten­den frei­zu­set­zen. Agi­le Prin­zi­pi­en sind daher auch im Lei­stungs­ma­nage­ment gefragt. Es geht nicht mehr um Pro­duk­ti­vi­tät und Out­put, son­dern um Krea­ti­vi­tät, Inno­va­ti­on und Wis­sens­ar­beit. Folg­lich muss es mehr Raum für Auto­no­mie, Ziel­stre­big­keit und für das Errei­chen einer Kom­pe­tenz in bestimm­ten Din­gen geben, die uns als Men­schen, als Füh­rungs­kräf­te und Mit­ar­bei­ten­de sowie als Lei­stungs­trä­ger voll erfüllt.

Alle Gehälter werden in Google-Sheets offengelegt, die von jedem Mitarbeitenden eingesehen werden können. Abbildung: Windows, Unsplash
Alle Gehäl­ter wer­den in Goog­le-Sheets offen­ge­legt, die von jedem Mit­ar­bei­ten­den ein­ge­se­hen wer­den kön­nen. Abbil­dung: Win­dows, Unsplash

Empowerment als Lösung!?

Wenn heut­zu­ta­ge von Agi­li­tät, Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on oder Teal die Rede ist, scheint Empower­ment der Kern vie­ler Kon­zep­te zu sein, die in Orga­ni­sa­tio­nen ver­wen­det wer­den – und doch schei­nen vie­le noch immer mit „ech­ter Befä­hi­gung“ zu kämp­fen. Zu breit und tief ist oft der Gra­ben zwi­schen den­je­ni­gen, die füh­ren, und den­je­ni­gen, die geführt wer­den – vor allem was das Ver­ständ­nis hin­sicht­lich Leistung(-sfähigkeit) und ent­spre­chen­der Ent­loh­nung anbe­langt. In unse­rer LIVEli­ne heißt es des­halb, dass jeder als Unter­neh­mer han­delt und die Ent­schei­dungs­fin­dung ein­deu­tig und unmiss­ver­ständ­lich sowie für alle ein­seh­bar beschrie­ben ist (vgl. LIVEli­ne Kapi­tel 5 und 8). Die Ent­schei­dung, die­se Grund­sät­ze auch bei den Gehäl­tern zu befol­gen, war für uns als Orga­ni­sa­ti­on von Anfang an klar. Bereits 2018 wur­de in einer unse­rer Gover­nan­ce-Sit­zun­gen des­halb Fol­gen­des beschlossen:

  • Jeder bestimmt sein Gehalt selbst.
  • Der „Advice Pro­zess“ ist für die Ver­gü­tung so defi­niert, dass man sich von allen Kol­le­gen im Unter­neh­men (cir­ca 20 Per­so­nen) Feed­back ein­holt, was man ihrer Mei­nung nach ver­die­nen soll­te. So wird das vor­ge­schla­ge­ne Gehalt in Kon­text gesetzt. Dabei hat übri­gens jeder sei­ne eige­nen Kri­te­ri­en für die Bestim­mung des jewei­li­gen Gehal­tes; es gibt kei­ne gene­rell gül­ti­gen Kri­te­ri­en im Team.
  • Auf­bau­end auf dem „Jeder ist ein Unternehmer“-Prinzip soll­te die Ver­gü­tung „Grund­ge­halt + Risi­ko­bo­nus“ sein – der Ein­satz für den „LIVE­topf“ bzw. Risi­ko­topf kann indi­vi­du­ell fest­ge­legt wer­den und ist grund­sätz­lich kein „Muss“.
  • Der Risi­ko­bo­nus wird nicht auf der Grund­la­ge indi­vi­du­el­ler KPIs berech­net, son­dern basiert viel­mehr auf der indi­vi­du­el­len Risi­ko­be­reit­schaft und dem unter­neh­mens­wei­ten Erfolg des Jah­res. Wir sit­zen alle im sel­ben Boot, war­um also unter­schied­li­che Bonus­hö­hen? Anmer­kung: Der Risi­ko­bo­nus setzt sich zusam­men aus der indi­vi­du­el­len Ein­zah­lung eines Team­mit­glieds mit­tels eines monat­li­chen Bei­tra­ges in den LIVE­topf, wel­cher am Ende des Jah­res mit dem Unter­neh­mens­er­folg ver­rech­net und anteils­mä­ßig (wie ein­ge­zahlt) jedem Team­mit­glied in Form eines „Bonus“ wie­der aus­be­zahlt wird.
  • Ver­kün­dung des final gesetz­ten Gehal­tes sowie des LIVE­topf-Ein­sat­zes in einem Team-Mee­ting. Der Inha­ber der Finanz­rol­le könn­te hier im letz­ten Schritt noch Veto ein­le­gen, falls die neu­en Gehäl­ter für das Unter­neh­men finan­zi­ell nicht ver­träg­lich wären. Hier­bei ist nur die Sum­me, nicht aber die indi­vi­du­el­len Gehäl­ter entscheidend.

Transparenz in der praktischen Umsetzung

Trans­pa­renz ist ein ent­schei­den­der Fak­tor für den Erfolg selbst­or­ga­ni­sier­ter Teams. Ent­spre­chend haben wir uns dafür ent­schie­den, unse­re Gehäl­ter trans­pa­rent zu machen. Als wir 2018 den Pro­zess für die selbst­be­stimm­ten Gehäl­ter ein­ge­führt haben, wur­den sie von jedem zeit­nah in einem Goog­le-Sheet, auf das jeder­zeit jedes Team­mit­glied zugrei­fen kann, geteilt. Die­ses Jahr ent­schie­den wir uns jedoch dazu, dass unser Rol­len­in­ha­ber Finan­zen alle Gehäl­ter wie Gehalts­emp­feh­lun­gen der Kol­le­gen erst sam­melt und in einem zwei­ten Schritt für alle trans­pa­rent teilt. Damit ver­su­chen wir eine Ver­zer­rung zu ver­mei­den. Bei­spiel: Ich set­ze für mich und die Kol­le­gen ein Gehalt fest und tei­le es direkt. Die Kol­le­gen wür­den es sofort sehen und mög­li­cher­wei­se nicht mehr unvor­ein­ge­nom­men entscheiden.

Empowerment des Einzelnen beflügelt immer auch das Team. Abbildung: Parabol, Unsplash
Empower­ment des Ein­zel­nen beflü­gelt immer auch das Team. Abbil­dung: Para­bol, Unsplash

Man kann sich vor­stel­len, dass der Advice-Pro­zess bzw. der Gehalts­vor­schlag für alle eine gro­ße Her­aus­for­de­rung dar­stel­len kann. Wie könn­te ich jeman­den, mit dem ich im ver­gan­ge­nen Jahr nicht (viel) gear­bei­tet habe, sinn­voll ein­schät­zen? Schließ­lich sind wir Bera­ter und sehen uns daher nicht jede Woche. Und trotz­dem hiel­ten wir es für eine gute Idee, das zu tun, was oben beschrie­ben wur­de – sub­jek­ti­ve, emp­fun­de­ne Fair­ness ist auch eher emo­tio­nal als ratio­nal. War­um also nicht trotz­dem einen Bei­trag leisten?

Was wir gelernt haben?

  • Die Angst vor Rat­schlä­gen für Kol­le­gen, mit denen ich noch nicht viel zusam­men­ge­ar­bei­tet habe, ver­flie­gen schnell. „Just do it“ ist für die­sen Teil des Pro­zes­ses ein guter Ratschlag!
  • Inter­es­san­ter­wei­se haben wir kei­ne gro­ße Span­ne bei unse­ren Zah­len. Die Vor­schlä­ge lie­gen alle ziem­lich nah bei­ein­an­der, aber die Grün­de dafür sind sehr unter­schied­lich. Das spie­gelt wohl unse­re unter­schied­li­chen Wer­te, Erfah­run­gen und Prä­fe­ren­zen wider und hat uns kei­ne Pro­ble­me, son­dern gute Dis­kus­sio­nen und Erkennt­nis­se beschert.
  • Nach jedem Gehalts­pro­zess (ein­mal im Jahr) set­zen wir uns zu einer Retro­spek­ti­ve zusam­men, um Ver­bes­se­run­gen zu dis­ku­tie­ren. Wir arbei­ten ste­tig an die­sem Kon­zept und ler­nen jedes Jahr wie­der etwas Neu­es dazu. New Work eben 😉
Abbildung: LIVEsciences
Abbil­dung: LIVEsciences

Timm Urschin­ger,

Mit­grün­der und CEO,

LIVE­sci­en­ces.

livesciences.com