In seiner Kolumne erläutert Timm Urschinger, CEO der Schweizer LIVEsciences AG, neue und innovative Organisationsmodelle für Unternehmen. Der siebte Teil zeichnet die Entwicklung einer Teal-Organisation nach und zeigt die Herausforderungen, Chancen und Möglichkeiten auf diesem Weg.
Nachdem wir uns nun in den sechs Teilen meiner Kolumne rund um New Work mit Teal, Selbstorganisation, rollenbasiertem Arbeiten, Performance Management und selbstbestimmten Gehältern beschäftigt haben, stellt sich die Frage: Wie sieht sie denn nun aus, die Zukunft der Arbeit? Wie organisieren sich Unternehmen tatsächlich im täglichen Business – jenseits aller Trends? Was tun Führungskräfte, um ihrer Aufgabe nachzukommen – wo doch niemand mehr geführt wird? Und wie kommen Mitarbeitende mit all dem klar? Tatsache ist: Der tägliche Kampf mit der Komplexität ist für keinen ein Zuckerschlecken. Teal zu werden oder zu sein, ist nicht einfach. Dass es sich lohnt, hat diese Serie mit ihren Einblicken in unsere eigene Evolution hoffentlich gezeigt.
Wir leben in einer sich rasch verändernden Welt, in der unzählige Systeme und Elemente miteinander interagieren. Das macht unser Umfeld komplex und manchmal unser Leben und unsere Arbeit sehr kompliziert. Das Gute daran ist: Auch wenn wir nicht wissen oder es absehbar ist, ob wir es richtig machen, können wir heute mehr denn je unsere Schöpferkraft beweisen. Wir haben es in der Hand, unsere Arbeitswelt bewusst zu transformieren, Organisationen gemeinsam anders zu gestalten und vor allem uns selbst dabei zu entwickeln.
Die Evolution schreitet voran
Organisationen und Branchen sind disruptiert, Märkte einem ständigen Wandel unterworfen und menschliche Reaktionen nicht mehr vorhersehbar. Kein Wunder, dass unsere Stärken von gestern die Schwächen von heute sind. Waren bis vor wenigen Jahren noch optimierte und effizient geführte Unternehmen die Gewinner, sind die Helden der Zeit inzwischen hochgradig innovative und agile Organisationen. Und das hat einen guten Grund: Auf Kunden- und Mitarbeiterseite sind neue Bedürfnisse entstanden. Vor allem durch Covid wurden Entwicklungen beschleunigt. Wir diskutieren über hybride und dezentrale Arbeitsformen, die Schaffung moderner Arbeitsplätze, die ein starkes kulturelles Rückgrat für das Unternehmen bilden, B-Corps, SDGs und andere Nachhaltigkeitsziele und vieles mehr. All das führt zu einer notwendigen Schlüsselfähigkeit für die Entwicklung von Organisationen: auf organisatorischer und individueller Ebene schnell und effektiv auf Veränderungen zu reagieren und gleichzeitig die mentale Gesundheit zu bewahren. Aber wie kann das gelingen?
Wenn plötzlich alle führen
Agile oder selbstorganisierte Unternehmen benötigen eher mehr als weniger Führungskräfte! Paradox, aber erklärbar: Weil jeder eine Führungspersönlichkeit ist, übernehmen alle Führung – im Gegensatz zu einigen wenigen Auserwählten in traditionell bürokratischen und hierarchischen Organisationen. Es ist ein interessanter Spagat, seiner eigenen Verantwortung gerecht zu werden, ohne dabei zu direktiv oder zu kontrollierend zu wirken. Vor allem, weil ich als Gründer/Eigentümer oder auch als Kader/Vice President etc. diese Verantwortung – auch rein rechtlich – nie ganz loswerde. In einer Teal-Organisation gibt es deshalb entsprechend hohe Erwartungen an bzw. Forderungen nach Führung und Autonomie zugleich. Im Idealfall werden Menschen in selbstorganisierten Unternehmen immer wieder dazu ermutigt, sich die Freiheit zu nehmen, ein Ziel zu verfolgen, das für einen selbst, für die Organisation und die Gesellschaft sinnvoll ist.
Teal ist keine magische Lösung für jeden und alles
Obwohl Teal viele Vorteile hat, ist es keineswegs einfach oder bequem. Tatsächlich kann es jeden innerhalb des Systems manchmal überfordern. Es braucht Zeit und harte Arbeit, um all die Praktiken, Gewohnheiten, Überzeugungen und Wertesysteme, die durch frühere Erfahrungen geprägt wurden, zu verlernen oder abzubauen. Diese persönliche Entwicklung ist weder immer nett, noch wollen wir manchmal in den Spiegel schauen und sicher kostet sie sehr viel Energie. Teal oder Agilität sind keine magischen Lösungen für alle Probleme oder Herausforderungen. Es ist ein Konzept und ein Ansatz, der es uns ermöglicht, auf die Herausforderungen zu reagieren, die uns gestellt werden. Um diese möglichst stressfrei und gesund zu meistern, sind Teal-Organisationen immer auf der Suche nach einer menschlicheren Zusammenarbeit.
Im Mittelpunkt steht dabei die psychologische Sicherheit, die Basis dafür ist, sich als Person voll zu zeigen und gleichzeitig auch die oft geforderte Fehler- oder Speak-up-Kultur ermöglicht. Verletzlichkeit und die Fähigkeit, „Ich weiss nicht“ zu sagen, betrachten Teal-Organisationen als Stärke. Scheitern wird als Teil der Innovation betrachtet. Mit dem Ziel, daraus zu lernen und zu verstehen, warum es passiert ist. Das bedeutet nicht, dass niemand für seine Taten und Fehler verantwortlich ist. Im Gegenteil: Sich selbst als Unternehmer zu sehen, der für seine Verpflichtungen, sein Arbeitspensum und die Einhaltung gemeinsamer Grundsätze sowie für ihre Fähigkeiten und Grenzen verantwortlich ist, ist natürlich nicht immer eine angenehme Erfahrung und erfordert ein hohes Mass an individueller Reife.
Wie bewegt man Organisationen in das neue Zeitalter?
Wir alle befinden uns auf einer Reise. Auch wenn wir leicht unterschiedliche Wege gehen und uns auf verschiedenen Etappen befinden, ist die Richtung gleich: weg von einer hierarchischen hin zu einer sich selbststeuernden Unterstützung. Weg von Fixed hin zu Growth Mindset. Nur so können wir die Innovationsbereitschaft einer Organisation und von jedem einzelnen Beteiligten fördern. Vor sieben Jahren begaben wir uns auf unsere eigene Reise und gründeten kurz darauf ein 100-prozentiges Teal-Unternehmen. Seitdem teilen wir Learnings und persönliche Geschichten über die Höhen und Tiefen dieser neuen Art des Arbeitens.
Als radikal selbstorganisiertes Unternehmen haben wir uns die Werte Selbstverantwortung und Ganzheitlichkeit auf die Fahne geschrieben. Das spiegelt sich auch in unserem horizontal organisierten und autonomen Team wider. Als Purpose-orientierte Persönlichkeiten erleben wir tagtäglich die Freuden und Herausforderungen, die mit der Autonomie einhergehen. Dabei haben wir nicht nur unseren eigenen Umgang mit selbstbestimmten Gehältern, Spannungsmanagement, Entscheidungsfindung, gewaltfreier Kommunikation usw. entwickelt, sondern wecken mit ebenso viel Leidenschaft das Potenzial von Menschen in anderen Organisationen. Indem wir sie von einschränkenden Strukturen und Prozessen befreien. Wir unterstützen unsere Kunden dabei, neue Arbeitsweisen zu entwickeln und anzupassen, um agiler, innovativer und wirkungsvoller zu werden. Die Erfahrung aus unserem eigenen Unternehmen ermöglicht es uns, authentisch zu beraten und individuell zu unterstützen. Kurzum, wir arbeiten täglich mit Leidenschaft daran, New Work zu einem besseren Ort für viele Menschen zu machen.
Timm Urschinger, Mitgründer und CEO, LIVEsciences. |