In seiner Kolumne erläutert Timm Urschinger, CEO der Schweizer LIVEsciences AG, neue und innovative Organisationsmodelle für Unternehmen. Im vierten Teil seiner Kolumne beschreibt er die Bedeutung unternehmerischer Grundsätze anhand der LIVElines seines Unternehmens.
Dinge anders machen, Dinge ganz anders machen. Und dabei voneinander lernen. So lässt sich New Work beschreiben. Darauf müssen sich Unternehmen einstellen, die bereit sind, agil zu arbeiten, teal in der Organisation zu leben. Dafür reicht eine Unternehmenskultur, so wichtig diese grundsätzlich ist, nicht mehr aus. Vor allem nicht, wenn sie von wenigen Führungskräften beziehungsweise der HR- oder Marketingabteilung erstellt wird. Schliesslich muss das Ganze gut klingen und noch besser aussehen. Werte und Prinzipien sind ausschlaggebend, sogar entscheidend, wenn wir aus einem unsicheren Umfeld in einer Organisation ein sicheres Umfeld machen möchten, wenn sich Menschen gegenseitig vertrauen, wenn Sinn und Profit Hand in Hand gehen sollen.
Identität führt zum Vertrauen
Weil New-Work-Unternehmen bewusst ist, dass sich von jetzt auf gleich alles ändern kann (und wird), wissen sie auch, dass sie Grundsätze brauchen und keine starren Regelkorsagen. Grundsätze für die interne Organisation, für die Zusammenarbeit und für Vorgänge, die bei der Erbringung der Arbeit für ihre Kunden wichtig sind. Bei LIVEsciences haben wir solche Grundsätze. Unsere LIVEline ist sozusagen eine Art Verfassungsdokument. Sieht man etwas genauer hin, ist es aber viel mehr: Es ist unsere sich stets entwickelnde Identität. Es ist unsere Basis für gegenseitiges Vertrauen. Es ist alles, was wir als Unternehmen anstreben.
Als Catalysts arbeiten wir Seite an Seite mit unseren Kunden, vor Ort in deren Räumlichkeiten oder virtuell. Ein eigenes Büro haben wir nicht. Wir wachsen recht schnell, sodass immer wieder neue Kollegen ins Team kommen. All das macht es schwierig, auf herkömmliche Weise Vertrauen aufzubauen. Wenn nicht genug Zeit ist, um sich wirklich kennenzulernen (und es gibt im Allgemeinen nie genug Zeit), braucht es etwas anderes. Das Vertrauen darauf, dass jeder im Unternehmen bestimmten Grundsätzen zustimmt und sein Bestes gibt, um den gemeinsamen Vorstellungen so nahe wie möglich zu kommen.
Lebendige LIVEline bietet „echte“ Orientierung
Bei LIVEsciences haben wir viel Zeit damit verbracht, unsere LIVEline zu entwickeln. Die Diskussion, um sie auf dem neuesten Stand zu halten, ist und bleibt weiterhin wertvolle Zeit: viel wertvoller als das Dokument selbst. Trotzdem sollten die Grundsätze natürlich so verfasst sein, dass sie eine Bedeutung haben. Schlagworte oder Definitionen werden nie zu „echter” Orientierung führen. Deshalb haben wir uns für Geschichten und Beispiele entschieden und nicht für wissenschaftliche Definitionen oder den Versuch, etwas vollständig zu beschreiben, was ohnehin nicht beschreibbar ist. Hier ein kleiner Auszug aus unserer LIVEline:
Kapitel 1: Unternehmenszweck
Stellt man sich den Unternehmenszweck als den Stamm eines Baumes vor, so hat jede Rolle ihren eigenen Sinn, die als Ast des Baumes interpretiert und bei Bedarf angepasst werden kann. Jeder von uns kommt zu LIVEsciences mit seinem einzigartigen persönlichen Sinn und ist eingeladen, seinen Beitrag zu leisten, um unser gemeinsames Unternehmensziel weiterzuentwickeln.
Kapitel 2: Ganzheitlichkeit und Safe Space
Wir alle arbeiten täglich daran, einen sicheren Raum zu schaffen und zu bewahren, für den Authentizität der Schlüssel ist. Wir unterstützen uns gegenseitig, wenn Zweifel, Ängste und Herausforderungen aufkommen. [...] Wir feiern individuelle Erfolge, aber teilen auch Misserfolge und Lernerfolge. Wir achten auf die Bedürfnisse, Erwartungen, Träume und Ziele eines jeden Einzelnen. Beziehungen zwischen Einzelpersonen sind wichtig, aber auch die zwischen Teams. Und um dies zu fördern, investieren wir Zeit in wöchentliche Treffen und organisieren regelmässige Offsites, in denen wir an unserem Teamzusammenhalt arbeiten.
Kapitel 3: Planung und Zielsetzung
Wir können jederzeit einen Einwand erheben, wenn eine wichtige Entscheidung getroffen wird, die sich auf die Pläne/Ziele (negativ) auswirken könnte. Es finden monatliche Governance-Sitzungen zur Arbeit AM System statt. Wir haben eine strategische Zielrichtung, aber es gibt jederzeit die Möglichkeit, Neues auszuprobieren und zu experimentieren. Wir haben OKRs (Objective Key Results) im Team definiert, welche wir regelmässig überprüfen und bei Bedarf anpassen. Pläne, nur um des Planens willen, sind wenig wert. [...] Dennoch sind sie wertvoll für eine gemeinsame Richtung, solange man offen dafür bleibt, Pläne stetig zu hinterfragen und anzupassen.
Kapitel 4: Innovation
Wir sind grosse Fans von Retros (kurz für Retrospektiven), um unsere Prozesse, Arbeits- und Denkweisen regelmässig zu hinterfragen. Wir versuchen, in Bezug auf neue digitale Tools für die interne wie externe Nutzung (zum Beispiel mit Kunden) stets am Ball zu bleiben und Neues auszuprobieren bzw. die besten Lösungen zu finden. Es steht uns allen frei, spontan neue Rollen vorzuschlagen (vgl. Beitrag #2: Governance und Beitrag #3: Selbstorganisation und rollenbasiertes Arbeiten) oder Rollen zu aktualisieren, wenn wir Bedarf sehen. Wir haben die Freiheit, unsere Ideen oder Projekte spontan einzubringen, ohne um Erlaubnis zu fragen. Diese fehlende Genehmigungspflicht ermutigt uns, unsere Kreativität und unser Potenzial freizusetzen. Wir behalten ein Auge auf das, was außen passiert, und suchen ständig nach Inspiration bei Veranstaltungen wie zum Beispiel bei (internen und externen) Safaris oder Teal Around The World.
Kapitel 5: Transparenz und Entscheidungsfindung
Alles ist intern für jeden jederzeit einsehbar, von den einzelnen Gehältern bis hin zum Auslastungsgrad pro Person. Wenn ein neuer Vertrag unterzeichnet wird, kündigen wir es an, indem wir „virtuell“ eine Glocke läuten und den Erfolg damit als Team zelebrieren. Wir teilen auch Misserfolge offen. Wir gehen mit guten und schlechten Nachrichten/Situationen gemeinsam als Team um und stützen unsere Entscheidungen und Entwicklungen auf kollektive Intelligenz. [...] Unser Ziel ist es, die bestmöglichen Entscheidungen für uns und für das Unternehmen als Unternehmer zu treffen.
Unsere LIVEline, insgesamt elf Kapitel (wer sich für den Rest interessiert, kann mir gern eine Nachricht schreiben), befähigt alle Mitarbeitenden als Individuen und als Team, unseren Zweck mit der Identität unserer Organisation in Einklang zu bringen. New Work in der Praxis!
Timm Urschinger, Mitgründer und CEO, LIVEsciences. |