In seiner Kolumne erläutert Timm Urschinger, CEO der Schweizer LIVEsciences AG, neue und innovative Organisationsmodelle für Unternehmen. Der fünfte Teil zeigt, wie ein konstruktiver Umgang mit Spannungen und Konflikten gestaltet werden kann.
Die konstruktive Konfliktlösung ist einer der Kernerfolgsfaktoren für Unternehmen. Ohne sich mit vorhandenen Spannungen – so gering diese im ersten Moment auch erscheinen mögen – auseinanderzusetzen, kein Deep Dive, kein Teal und kein New Work. Weil all das mit Vertrauen einhergeht und dieses Vertrauen nur auf Basis eines offenen und ehrlichen Umgangs mit Spannungen und Konflikten entstehen und wachsen kann. Patrick Lencioni hat das in seinem Modell und gleichnamigen Buch „Die fünf Dysfunktionen eines Teams“ plakativ dargestellt. Lassen Sie uns also gemeinsam eintauchen in die Welt der Tensions, uns anschauen, wie Konflikte zur Harmonie führen und warum das alles so wichtig ist, damit das System lebt.
Weiterentwicklung braucht Spannungen
So wie eine Teal-Organisation Vertrauen in seine Teal-Grundsätze und Teal-Ziele hat, hat natürlich auch jeder Mensch in dieser Organisation Vertrauen in das eigene Potenzial und in das Team. Genau das unterscheidet Teal von traditionellen Systemen: halten, was versprochen wurde, und versuchen, den hohen Ansprüchen gerecht zu werden. Eine Herausforderung, vor allem in Zeiten mit Spannungen und Konflikten. Wie in jedem System erzeugt dies verständlicherweise Ängste und Befürchtungen.
Die Einstellung „wir sind alle nett zueinander“ ist zwar löblich, hilft dabei aber nicht wirklich weiter. Die Organisation als lebendigen Organismus zu verstehen und weiterzuentwickeln, spiegelt sich in einer spannungsbasierten Zusammenarbeit wider. Einerseits durch die Arbeit am System durch regelmässige Governance-Meetings (wie ich sie im zweiten Teil der Kolumne beschrieben habe) und andererseits durch die Arbeit im System durch Tension-Meetings. In diesem Beitrag werden wir die Bedeutung und Praxis von Letzteren genauer betrachten.
Spannungen anzusprechen ist eine Pflicht
Spannungen entstehen durch persönliche Gefühle aufgrund subjektiver Wahrnehmungen. Spannungen sind nichts anderes als eine Diskrepanz zwischen der Realität und unseren potenziellen Erwartungen. Erst eine vorgetäuschte Harmonie, wie sie oft in Organisationen oder einzelnen Teams zu finden ist, lässt diese Spannungen zu ernsthaften Konflikten heranwachsen.
Wir bei LIVEsciences glauben, dass das offene Ausdrücken und Diskutieren von Spannungen Schlüsselfaktoren für ein sicheres Umfeld sind. Genau das ermöglicht es, uns mit unseren Gefühlen zu verbinden und so einem der drei Hauptmerkmale einer Teal-Organisation gerecht zu werden: der Ganzheitlichkeit. Statt Taktieren leben wir Offenheit – auch bei Problemen. Statt dem Zurück- und Geheimhalten von Informationen vertrauen wir darauf, dass eben jene Offenheit dafür sorgt, sich gemeinschaftlich weiterzuentwickeln – auch was das Thema Konflikte anbelangt. Dabei sind uns einige Grundannahmen wichtig, über die Organisationen nachdenken sollten, bevor sie diesen Weg grundsätzlich einschlagen und während Konflikten tatsächlich angesprochen werden:
- Wir konzentrieren uns darauf, uns selbst zu verändern und laden dann andere ein, sich uns anzuschliessen. Denken Sie immer zuerst an Ihre eigene Verantwortung.
- Wir übernehmen Verantwortung für unsere verbale und nonverbale Kommunikation und für das, was wir tun oder nicht tun (insbesondere für Verpflichtungen).
- Wir versuchen zuerst zu verstehen, bevor wir zustimmen oder widersprechen.
- Besser als zu urteilen ist es, anderen zu helfen, es in Zukunft besser zu machen.
Jeder bei uns ist ein Sensor und dafür verantwortlich, Konflikte und persönliche Spannungen aktiv anzusprechen. Kurzfristig und auf lange Sicht lohnt es sich, das zu tun, auch wenn man glaubt, dass andere es nicht gern hören. Unser Ziel dabei ist es, Konflikte möglichst schnell aufzudecken, aufgrund von drei Faktoren:
- Konflikte zu vermeiden ist nicht möglich, deshalb wollen wir sie lösen.
- Kleine ungelöste Probleme haben im Laufe der Zeit oft eine große demoralisierende Wirkung.
- Konflikte sind eine Einladung zum Lernen und Wachsen als Individuum und/oder als Organisation.
Unser monatliches Tension-Meeting hat sich seit unserer Gründung als Plattform für das offene Adressieren von Konflikten etabliert. Wir tun es aus der Überzeugung heraus, dass unausgesprochene Konflikte unseren Psychological Safe Space beeinflussen, es ein entscheidender Faktor ist, unsere Wholeness ins Team zu bringen und Spannungen ein Sensor sein können für nötige Anpassungen in einer sich schnell verändernden Umwelt. Gerade um mit den Herausforderungen in einem selbstorganisierten Setting zu bestehen, braucht es ein aktives Konfliktmanagement. Allerdings sind wir davon auch ganz unabhängig von der Organisationsstruktur überzeugt.
Konfliktmanagement in der Umsetzung bei LIVEsciences
In der Umsetzung sind wir sehr pragmatisch: Derjenige, der eine Tension äussern möchte, trägt diese fortlaufend in eine einfache, für jeden einsehbare Excel-Tabelle ein. Die Tensions können zwischenmenschlich und/oder systemisch sein. Einmal im Monat treffen wir uns als Team für eine Stunde im Tension-Meeting. Hier wird jede Spannung einzeln von demjenigen, der sie in die Liste eingetragen hat, geäussert und erläutert. Nach der Besprechung jeder Spannung gemäß der Theorie gewaltfreier Kommunikation nach Rosenberg dürfen Verständnisfragen gestellt werden. Wenn alle Fragen geklärt sind, werden nächste Schritte zur Annäherung an die Konfliktlösung besprochen. Eine Priorisierung nach Farbcode (open, closed, in progress) zeigt den aktuellen Stand in der Excel-Tabelle an.
Grundsätzlich gibt es drei Möglichkeiten, mit einer Tension umzugehen: sie in einem 1:1-Gespräch zu lösen, sie bei Teamrelevanz im Tension-Meeting ansprechen, oder, falls der Konflikt nicht gelöst werden konnte, einen internen oder externen Mediator als Schlichtungsstelle einzuschalten. Auch das ist übrigens eine Chance für Wachstum. Deshalb möchte ich abschließend noch kurz den Prozess für den Fall darstellen, dass ein Mediator hinzugezogen werden muss:
- Wenn die betroffenen Kollegen keine für alle akzeptable Lösung finden können, ernennen sie einen Kollegen ihres Vertrauens zum Mediator oder rufen einen externen Mediator hinzu. Der Mediator gibt keine Entscheidung vor. Er unterstützt die Beteiligten vielmehr dabei, eine eigene Lösung zu finden.
- Wenn die Mediation scheitert, wird ein Gremium aus themenrelevanten Kollegen einberufen. Auch hier gibt das Gremium keine Lösung vor.
- Der letzte Schritt lautet „agree to disagree“. Das bedeutet, getrennte Wege zu gehen, gegebenenfalls durch eine Kündigung. Das ist natürlich nach Prüfung aller anderen Möglichkeiten auch eine weitere (endgültige) Option.
In einer lernenden Organisation gibt es vielleicht – oder sogar ganz gewiss – viele weitere Optionen (die wir heute noch gar nicht kennen), um eine Spannung oder einen Konflikt erfolgreich zu lösen. Dabei spielt es beinahe keine Rolle, wie der Umgang mit Spannungen und Konflikten gestaltet wird. Das Wichtigste ist weg von Harmonie hin zu einem konstruktiven Diskurs zu kommen.
Timm Urschinger, Mitgründer und CEO, LIVEsciences. |