Schlaue Hinweise zur Erhaltung der Gesundheit sind seit vielen Jahren omnipräsent. An Bewusstsein und Know-how mangelt es nicht, wohl aber an der Umsetzung. Ein Plädoyer für den Übergang vom Wissen zum Handeln von Robert Nehring.
Was ist eigentlich Gesundheit? Die Weltgesundheitsorganisation WHO liefert eine sehr treffende Definition: „Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechen.“ Damit wird ein ganz wichtiger Aspekt angesprochen: Gesundheit bedeutet nicht nur die Abwesenheit von Krankheit oder eines gelben Zettels, sondern schliesst auch ein allgemeines Wohlbefinden mit ein. Dieser Aspekt wurde in der Bürowelt lange Zeit vernachlässigt, denn er lässt sich nur schwer in Regelwerke giessen. Und diese haben die Büroarbeit über Jahrzehnte definiert. Seit einigen Jahren gibt es jedoch einen Trend zum sogenannten Wellbeing. Er wird besonders durch wohnliche Lösungen der Büromöbelbranche befeuert. Parallel zu diesem Trend lässt sich allerdings auch eine zunehmende Vernachlässigung von Vorschriften wie der Arbeitsstättenverordnung feststellen.
Neue Herausforderungen für die Gesundheit
Die Büroarbeitswelt durchlebt noch immer einen grundlegenden Wandel. Die zunehmende Digitalisierung führt zu mehr Flexibilität, Kommunikation, Selbstverantwortung. In Bezug auf die Gesundheit hat das auch negative Folgen.
Die physischen Leiden werden kaum weniger. Muskel-Skelett-Erkrankungen und die berüchtigten Rückenschmerzen bleiben im Büro weit verbreitet. Sitzbauch, Adipositas und Diabetes Typ 2 sind normal geworden. Wir kennen Sehnenscheidenentzündungen als Mausarm, trockene Augen als Office-Eye-Syndrom, und wir werden Zeuge von Präsentismus, wenn Beschäftigte krank zur Arbeit gehen.
Deutlich zugenommen haben in den letzten Jahren die psychischen Beeinträchtigungen. Studien konstatieren eine allgemeine Zunahme von (negativem) Stress durch mehr Zeitdruck, Verantwortung und „Multitasking“.
Für mich zeichnen sich heute sechs besondere Herausforderungen für die Gesundheit im Büro ab.
1. Bildschirmarbeit
Büroarbeit ist heute vor allem Bildschirmarbeit, auch wenn sie unterwegs geleistet wird. Office-Worker starren den ganzen Tag auf Displays, auf Monitore, Notebooks, Tablets, Smartphones. Nach Feierabend geht das munter weiter, mit Fernsehen oder Streamen. Selbst im Bett richtet sich der Blick aufs E-Book oder Smartphone. Dieses Verhalten macht unter anderem kurzsichtig, trockenäugig und schlaflos.
Was sollten Sie tun?
- Machen Sie regelmässig Bildschirmpausen, in denen Sie in die Ferne schauen.
- Blinzeln Sie. Vielleicht ergibt sich sogar ein Flirt daraus. Schauen Sie entspannt statt gebannt.
- Nutzen Sie Blaulichtfilter. Windows 10 aktiviert ihn standardmässig um 21 Uhr. Setzen Sie ihn schon früher ein. Moderne Büromonitore verfügen über eine Funktion zum Filtern von schädlichen Blaulichtanteilen.
- Achten Sie auf die richtigen Sehabstände. Bei Monitoren liegen sie je nach Grösse bei 50–70 cm. Faustregel: Nie unter Armlänge.
- Nach einem Bildschirmarbeitstag sollten Sie Ihre Bildschirmzeit aufs Nötigste begrenzen.
2. Bewegungsarmut
Büroarbeit hat sich wesentlich zu Sitzarbeit entwickelt. Hier spielt es ebenfalls kaum eine Rolle, wo man tätig ist. Gesessen wird im Zug, im Home-Office und im Coworking-Space. Bewegungsarmes Sitzen aber zählt zu den Hauptgründen für Beeinträchtigungen von Office-Workern. Es steigert das Risiko von Rücken- und Kopfschmerzen, Diabetes- und Krebserkrankungen, von Haltungsschäden und psychischen Leiden, während Wohlbefinden, Kreativität, Produktivität und Lebenserwartung sinken.
Was sollten Sie tun?
- Die beste Haltung ist immer die nächste. Lehnen Sie sich beim Sitzen immer wieder einmal zurück und zur Seite.
- Nutzen Sie bewegungsförderndes Mobiliar: sogenannte 3-D-Stühle, Sitz-Steh-Tische, Stehhilfen.
- Machen Sie Meter. Kommen Sie mit dem Fahrrad zur Arbeit, stehen Sie beim Telefonieren, nutzen Sie die Treppe, und gehen Sie in der Mittagspause spazieren.
- Probieren Sie bewegungsfördernde Hilfsmittel wie Laufbänder, Deskbikes, Balancierbretter, Trampoline aus. Nutzen Sie, was zu Ihnen passt.
- Nehmen Sie an bewegungsfördernden Kursen im Betrieb teil, und sorgen Sie für viel Bewegung in der Freizeit.
3. Ignorierte Ergonomie
In unserer neuen, von Start-ups und Coworking-Spaces inspirierten provisorischen und wohnlichen Bürowelt spielen Regelwerke wie die Arbeitsstättenverordnung oft keine oder nur noch eine geringe Rolle. Gleiches gilt für viele Home-Offices. Oft ist es zu laut, zu kalt, zu warm, zu trocken, zu feucht, zu dunkel, zu hell. Ergonomisch sind weder die Kaffeehausstühle oder niedrigen Sofas, auf denen gern gearbeitet wird, noch die oft zu kleinen Schreibtische und das Fehlen von angemessen grossen Monitoren.
Was sollten Sie tun?
- Informieren Sie sich über die Regeln und Empfehlungen, die zum Schutz der Gesundheit verfasst worden sind.
- Arbeiten Sie körperzentriert: Display, Tastatur usw. sollten sich mittig vor Ihnen befinden. Tastaturen mit Ziffernblock müssen häufig entsprechend etwas nach rechts versetzt werden.
- Achten Sie auf einen Winkel von etwas mehr als 90° zwischen Ober- und Unterschenkeln, Ober- und Unterarmen sowie Ober- und Unterkörper.
- Nutzen Sie Handauflagen (etwa aus Gel), angenehm bedienbare, handgrosse Mäuse, flexible Monitorarme und ähnlich unterstützende Hilfsmittel.
- Vermeiden Sie Blendungen und Spiegelungen. Achten Sie auf mindestens 500 Lux auf dem Schreibtisch und eine Direkt-/Indirektbeleuchtung. Stosslüften Sie regelmässig, sorgen Sie für eine angenehme Raumtemperatur, und nutzen Sie bei Bedarf Luftbefeuchter. Lassen Sie sich in Sachen Raumakustik professionell beraten, und nehmen Sie beim Sprechen Rücksicht auf die anderen.
4. Falsche Ernährung
Die meisten Office-Worker essen zu viel für ihren oft nicht sehr hohen Kalorienverbrauch und viele ernähren sich einfach schlecht. Von der süssen Limonade über die ins Schnitzelkoma mündende Schnipo-Schranke bis zum Schokoriegel für zwischendurch.
Was sollten Sie tun?
- Mittags leichte, abwechslungsreiche Kost. Fisch, Gemüse, kein süsses Dessert.
- Viel stilles Wasser. Zwei Liter am Tag.
- Viele Vitamine: Äpfel, Bananen, Gemüsesticks.
- Nüsse und Naturjoghurt statt Schokolade und Torte.
- Und Anstossen geht heute auch schon ohne Alkohol.
5. Dauerhafter Stress
Die mit der zunehmenden Digitalisierung einhergehende Informationsflut überfordert viele. Mit den Möglichkeiten steigen die Notwendigkeiten. Zu viel Termindruck führt zu negativem Stress. Manche entwickeln ein als Multitasking missverstandenes Aufmerksamkeitsdefizit. Sie springen von Aufgabe zu Aufgabe, von Fenster zu Fenster. Sie arbeiten immer mehr und schaffen immer weniger. Überarbeitete Office-Worker haben oft Probleme einzuschlafen. Laut Experten entwickeln wir uns zu einer „Müdigkeitsgesellschaft“. Immer mehr Beschäftigte betreiben Neuro-Enhancement mit Schlaf- und Aufputschmitteln.
Was sollten Sie tun?
- Minimieren Sie unnötige Stressoren wie akustische Störungen. Überlegen Sie, was Sie zum Wohlfühlen brauchen. Grössere Unternehmen können ein Feel-Good-Management etablieren.
- Bauen Sie Stress ab: Sorgen Sie für einen Ausgleich durch Hobbys, Sport und Freunde, damit Sie auf andere Gedanken kommen.
- Stress ist mitunter Einstellungssache. Resistenz, Resilienz, Resonanz sind teilweise erlernbar. Nehmen Sie die Arbeit sportlich. Viel Übung kann einen auch einfach besser machen.
- Achtsamkeit: Nehmen Sie sich selbst wahr. Versuchen Sie, Zusammenhänge wie zwischenmenschliche Automatismen zu verstehen. Setzen Sie bewusst Grenzen für sich. Machen Sie sich nicht verrückt, und entwickeln Sie eine gesunde Gelassenheit.
- Keine dauerhafte Überlastung: Wenn alles nichts hilft, suchen Sie das Gespräch mit dem Vorgesetzten. Bleibt auch dies ohne Erfolg, eine andere Beschäftigung.
6. Work-Life-Blending
Das Verschmelzen von Arbeits- und Privatleben wird zunehmend Realität. Während der Arbeit wird die Urlaubsreise organisiert, in der Freizeit dafür noch eine Präsentation vorbereitet. Leider vollzieht sich diese – auch euphemistisch Work-Life-Integration genannte – Entwicklung meist zu Ungunsten der Freizeit.
Was sollten Sie tun?
- Selbst wenn es oft als Phrase missbraucht wird: Arbeiten Sie, um zu leben, nicht umgekehrt.
- Family first. Die Familie geht vor. (Die Firma ist übrigens nicht die Familie, nicht einmal bei Familienunternehmen.)
- Not always on: Seien Sie nur in echten Notfällen ausserhalb der Arbeitszeit für Ihr Unternehmen erreichbar.
- Nutzen Sie wenn möglich Betriebskitas und wenn nötig verkürztes Arbeiten. Aber prüfen Sie vor einem Antrag auf Home-Office erst einmal, ob Heimarbeit wirklich positiv für Ihre Work-Life-Balance wäre.
- Sorgen Sie im Urlaub dafür, dass Sie Ihre Gedanken frei bekommen von der Arbeit.
Natürlich gibt es noch viele weitere Herausforderungen. Wichtig ist, dass Sie sich überlegen, wie Sie sie meistern können. Und dann das Allerwichtigste: Handeln Sie entsprechend!