Virtuelles Arbeiten: Kann das analoge Gehirn auch digital?

Remo­te-Team­work und vir­tu­el­le Mee­tings haben uns in den ver­gan­ge­nen Mona­ten gei­stig und kör­per­lich her­aus­ge­for­dert. Wir sind jetzt im digi­ta­len Zeit­al­ter ange­kom­men. War­um das aber aus neu­ro­wis­sen­schaft­li­cher Sicht nicht so leicht ist, erklärt Per­so­nal-Brain-Coach und Spea­ke­rin Julia Kunz.

Wie passt sich das analoge Gehirn der digitalen Arbeitswelt an? Abbildung: Gerd Altmann, Pixabay
Wie passt sich das ana­lo­ge Gehirn der digi­ta­len Arbeits­welt an? Abbil­dung: Gerd Alt­mann, Pixabay

Man könn­te auch sagen: Digi­ta­li­sie­rung bedeu­tet für unser Gehirn Stress pur. Statt Kuschel­hor­mo­ne wie Oxy­to­cin aus­zu­schüt­ten, wenn wir uns vor einer ana­lo­gen Bespre­chung per Hand­schlag begrüs­sen, sind im Zoom-Mee­ting die Stress­hor­mo­ne Adre­na­lin und Nor­ad­re­na­lin ange­sagt. Statt im Small Talk die Atmo­sphä­re aus­zu­lo­ten, ver­sucht unser Gehirn, neben der Kon­zen­tra­ti­on auf das Inhalt­li­che, vir­tu­ell alles und alle im Blick zu haben. Und das, obwohl wir am Bild­schirm besten­falls klei­ne Kacheln von eini­gen Anwe­sen­den – und die auch nur zum Teil – sehen.

Wie das Homeoffice unser Gehirn herausfordert

Zoom-Fati­gue nennt sich das. Wir sind schnell müde, weil unser Gehirn zu viel Ener­gie dafür ver­braucht. Für eher intro­ver­tier­te oder schüch­ter­ne Men­schen ist es in Online­mee­tings zudem schwie­rig, sich zu Wort zu mel­den, weil die gesam­te Auf­merk­sam­keit auf den Spre­cher gerich­tet ist.

Ein wei­te­rer Stress­fak­tor für das Gehirn ist die Tat­sa­che, dass wir im Home-Office meist nicht allein sind. Auch bei einer gross­zü­gi­gen Wohn­si­tua­ti­on kön­nen wir unse­re Kon­zen­tra­ti­on nie­mals voll und ganz auf das fokus­sie­ren, was vor uns liegt. Unbe­wusst ist ein Teil unse­res Gehirns immer in Alarm­be­reit­schaft, um sofort auf vol­le Auf­merk­sam­keit umzu­schal­ten, soll­ten bei­spiels­wei­se uner­war­te­te Geräu­sche aus dem Kin­der­zim­mer kommen.

Gehirn 4.0 oder Generation Goldfisch?

Längst machen Stich­wor­te wie „digi­ta­le Demenz” die Run­de. Angeb­lich ist unse­re Kon­zen­tra­ti­ons­span­ne gerin­ger als die eines Gold­fischs. Aber das Rad zurück­dre­hen möch­te auch nie­mand. Was bleibt, ist die Fra­ge: „Wie gehen wir am besten mit der Digi­ta­li­sie­rung um, damit wir davon pro­fi­tie­ren können?“

Digi­ta­li­sie­rung bedeu­tet nichts ande­res als die Umwand­lung von ana­lo­gen Wer­ten in digi­ta­le For­ma­te: Navi oder Kalen­der im Smart­phone – das Leben ist beque­mer gewor­den. Wir müs­sen uns nichts mehr mer­ken, weil wir alles stän­dig dabei und griff­be­reit haben. Aber kann unser Gehirn, ein cir­ca zwei Mil­lio­nen Jah­re altes, ana­lo­ges Stein­zeit­ge­bil­de, über­haupt mit der Digi­ta­li­sie­rung zurecht­kom­men? Die Ant­wort lau­tet: ja. Es funk­tio­niert aber nur dann gut, wenn wir erst unser Gehirn ein­schal­ten und dann die digi­ta­le Welt betreten.

Ausgelagertes Wissen und die Folgen

Das Wis­sen die­ser Welt steht stän­dig und in unvor­stell­ba­rem Aus­mass zur Ver­fü­gung. Wir müs­sen ein­fach nur goo­geln. Wäh­rend wir frü­her auf der Suche nach einer Ant­wort in Büchern nach­ge­schla­gen haben, schau­en wir jetzt kurz im Inter­net. Weil die­ser aus­ge­la­ger­te Teil unse­res Gedächt­nis­ses immer ver­füg­bar ist, machen wir uns nicht mehr die Mühe, uns etwas zu mer­ken. Doch das ist fatal.

Unser Gedächt­nis arbei­tet schliess­lich umso bes­ser, je mehr wir es nut­zen. Trotz­dem schafft es nur ein Bruch­teil unse­rer Ein­drücke in unser Bewusst­sein. Dann müs­sen noch vie­le Fak­to­ren stim­men, damit wir Fak­ten lang­fri­stig abspei­chern. Das sind neben dem rich­ti­gen Hor­mon­cock­tail und mäs­si­gem Stress vor allem Inter­es­se, vor­han­de­nes Wis­sen sowie die rich­ti­ge Dosis an Informationen.

Multitasking ist purer Stress für das Gehirn. Abbildung: John Hain, Pixabay
Mul­ti­tas­king ist purer Stress für das Gehirn. Abbil­dung: John Hain, Pixabay

Multitasking ist ein Trugschluss

Ken­nen Sie den Begriff „second screen“? Wenn wir fern­se­hen, haben vie­le auch ihr Smart­phone in der Hand. Neh­men wir an einem Web­mee­ting teil, checken wir sehr wahr­schein­lich ab und zu unse­re E-Mails, Social-Media-Kon­ten oder Sta­tus­nach­rich­ten von Freun­den. Das gibt uns das Gefühl, effi­zi­ent zu sein. Für unser Gehirn heisst das aber nichts ande­res als Mul­ti­tas­king. Und das funk­tio­niert nicht. Wenn wir kon­zen­triert und effi­zi­ent arbei­ten wol­len, dann geht das nur an einer ein­zi­gen Auf­ga­be. Sobald eine ande­re dazu­kommt, sind wir nicht mehr auf­merk­sam bei der Sache.

Die richtige Grundversorgung

Prin­zi­pi­ell ist unser Gehirn extrem anpas­sungs­fä­hig. Es kann gran­dio­se Lei­stun­gen voll­brin­gen, wenn es rich­tig genutzt wird. Wich­tig dafür ist die Grund­ver­sor­gung. Aus­rei­chend Geträn­ke über den Tag ver­teilt und eine aus­ge­wo­ge­ne Ernäh­rung bil­den die Basis für einen kon­zen­trier­ten und fokus­sier­ten digi­ta­len Alltag.

Ein wich­ti­ger Fak­tor für die Lei­stungs­fä­hig­keit unse­res Gehirns ist auch unser Stress­le­vel. Mäs­si­ger Stress macht uns kon­zen­triert und auf­merk­sam. Wird der Stress hin­ge­gen zu viel, wer­den wir ver­gess­lich und unkon­zen­triert. Sehr star­ker Stress über lan­ge Zeit schä­digt gar das Gehirn.

Wenn unser Gehirn gut funk­tio­niert, schüt­tet es Boten­stof­fe und Hor­mo­ne in den rich­ti­gen Mas­sen aus. Sero­to­nin sorgt dafür, dass wir uns wohl füh­len und guter Stim­mung sind. Wenn wir ins Tun kom­men wol­len, brau­chen wir Dopa­min. Glücks­hor­mo­ne, soge­nann­te Opio­ide, fol­gen, wenn wir ein Ziel erreicht haben.

Wohlbefinden steigern

Nut­zen wir ein­fach bei­des: die fas­zi­nie­ren­de digi­ta­le Welt und die Freu­de des ana­lo­gen Lebens 1.0. Las­sen wir unser Gehirn 4.0 das tun, was es am lieb­sten tut: arbei­ten. Mit unse­ren fünf Sin­nen, dem Abbau von Stress, posi­ti­ven Hor­mo­nen und dem hap­ti­schen Erleb­nis beim Blät­tern in einem Lexikon.

Abbildung: Martina van Kann
Abbil­dung: Mar­ti­na van Kann

Julia Kunz,

Per­so­nal Coach, Speakerin.

Juliakunz.de